Es gibt eine Reihe von guten Gründen, das Thema Autismus im Kontext von Borderline-Persönlichkeitsstörungen zu betrachten. So scheinen etwa zehn Prozent der überwiegend weiblichen Betroffenen mit Borderline ebenfalls eine Diagnose auf Autismus zu haben.*1 Umgekehrt ist Borderline eine der häufigsten Fehldiagnosen bei Menschen mit Autismus. Nicht zuletzt gehen nach eigener Erfahrung Betroffene mit Autismus, mehr als nur zufällig oft, teilweise erheblich konfliktbeladene Paarbeziehungen mit einem Menschen mit einer Borderline-Störung ein.
Gleichwohl sind solche Betrachtungen fast schon eine Art Pionierarbeit, da es zumindest im deutschsprachigen Raum nahezu keinen einzigen Artikel zu Autismus und Borderline gibt, außer meine eigenen Arbeiten und Podcasts zu diesem Thema. Deswegen ist es umso wichtiger, diesen Bestand nach und nach zu erweitern. In diesem Artikel möchte ich deshalb die Fähigkeit zur Empathie beider Personengruppen vergleichend gegenüberstellen. Dies erscheint umso sinnvoller, als sowohl die DSM5-Kriterien für Borderline, als auch jene für Autismus, explizite Punkte zur Empathiefähigkeit enthalten.
Eingeschränkte Empathie als Diagnosekriterium des DSM5
So heißt es bezüglich Autismus im DSM5:
„A. Anhaltende Defizite in der sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion über verschiedene Kontexte hinweg. Diese manifestieren sich in folgenden aktuell oder in der Vergangenheit erfüllten Merkmalen (die Beispiele sind erläuternd, nicht vollständig):
1. Defizite in der sozial-emotionalen Gegenseitigkeit. Diese reichen z.B. von einer abnormen sozialen Kontaktaufnahme und dem Fehlen von normaler wechselseitiger Konversation sowie einem verminderten Austausch von Interessen, Gefühlen oder Affekten bis hin zum Unvermögen, auf soziale Interaktion zu reagieren bzw. diese zu initiieren.
2. Defizite im nonverbalen Kommunikationsverhalten, das in sozialen Interaktionen eingesetzt wird. Diese reichen z.B. von einer schlecht aufeinander abgestimmten verbalen und nonverbalen Kommunikation bis zu abnormem Blickkontakt und abnormer Körpersprache oder von Defiziten im Verständnis und Gebrauch von Gestik bis hin zu einem vollständigen Fehlen von Mimik und nonverbaler Kommunikation.
3. Defizite in der Aufnahme, Aufrechterhaltung und dem Verständnis von Beziehungen. Diese reichen z.B. von Schwierigkeiten, das eigene Verhalten an verschiedene soziale Kontexte anzupassen, über Schwierigkeiten, sich in Rollenspielen auszutauschen oder Freundschaften zu schließen, bis hin zum vollständigen Fehlen von Interesse an Gleichaltrigen."*2
Ein entsprechendes Kriterium zur Borderline-Störung findet sich im DSM5 in der Sektion III:
„3. Empathie: Eingeschränkte Fähigkeit, die Gefühle und Bedürfnisse anderer Personen zu erkennen, verbunden mit zwischenmenschlicher Überempfindlichkeit (beispielsweise eine Neigung, sich geringgeschätzt oder beleidigt zu fühlen); die Wahrnehmung anderer fokussiert auf negative Eigenschaften oder Vulnerabilitäten.“*3
Während Probleme im Bereich der Empathie im Hinblick auf Autismus allgemein bekannt und anerkannt sind, ist dies bei Borderline nicht der Fall. Dies überrascht umso mehr, als dass der DSM5 sich in dieser Hinsicht deutlicher nicht ausdrücken könnte.
Meine Vermutung ist, dass die wenigsten Psychotherapeuten, auch wenn sie Patienten mit Borderline behandeln, über den „normalen“ DSM5 hinauslesen und auch einen Blick in das Alternativmodell werfen. „Alternativmodell“ heißt hier übrigens nicht, dass dessen Kriterien umstritten sind. Darüber hinaus werden Probleme im Bereich der Empathie bei Borderline in unzähligen Fachbüchern seit jeher erwähnt und besprochen, sei es bei Kernberg*4 , bei Kreisman und Straus*5 , Niklewski*6 uva.
Defekte Mentalisierung bei Borderline und Autismus
Auffällig sind sowohl bei Autisten als auch bei Menschen mit Borderline teils erhebliche Einschränkungen in der Mentalisierungsfähigkeit („Theory of Mind“). Mentalisierung ist die Fähigkeit, sich vorstellen zu können, welche inneren Zustände ein jeweils anderer hat. Dazu zählen neben seinen Gefühlen auch seine Gedanken und Bedürfnisse.
Bei Autisten ist dies bereits seit langem bekannt und wurde anhand eines sogenannten „False-belief-Test“ im Jahre 1985 durch Simon Baron-Cohen et. al. nachgewiesen.*7 In einer Revisionsstudie von Kißgen und Schleiffer aus dem Jahr 2002 konnten diese Ergebnisse zum Teil bestätigt werden.*8
Nach aktuellem Kenntnisstand haben gerade autistische Kinder im Vergleich zu Nicht-autistischen Vergleichsgruppen erhebliche Defizite im Bereich der Mentalisierung, welche sich aber im Laufe der Zeit in der Regel verwachsen, so dass erwachsene Betroffene in entsprechenden Testungen nicht schlechter abschneiden, als nicht von Autismus betroffene Menschen.*9
Anders ist dies bei Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Bei diesen Betroffenen liegen Beeinträchtigungen der Mentalisierung nach aktuellen Erkenntnissen auch im Erwachsenenalter vor.*10 Bei genauerer Betrachtung ist dies nicht überraschend, da allein die bei Borderline-Betroffenen vorherrschende Spaltungsabwehr zu einer unrealistisch verzerrten Wahrnehmung des Gegenübers führt. Schwierig scheint hingegen die Frage, ob die Mentalisierungsfähigkeit auch bei späteren Borderline-Betroffenen bereits im Kindesalter gestört ist, da Persönlichkeitsstörungen im Gegensatz zu Autismus-Spektrum-Störungen erst im Jugendalter erworben werden.
Spiegelneuronen: Borderliner können es besser!
Wärend Borderline-Betroffene im Hinblick auf die Mentalisierungsfähigkeit im Laufe des Lebens von autistischen Menschen abgehängt werden, ist es im Bereich der Spiegelneuronen umgekehrt. Spiegelneuronen helfen uns dabei, Emotionen und Handlungen anderer intuitiv nachzuvollziehen – also anders als im Bereich der Mentalisierung, wo dieser Vorgang bewusst abläuft.
So zählt es zu den klassischen Theorien über die Ursachen von Autismus, dass Betroffene über zu wenig aktive Spiegelneuronen verfügen oder diese zumindest anders funktionieren, als bei neurotypischen Menschen.*11 Auch wenn an dieser Theorie im speziellen in den letzten Jahren gelegentlich Zweifel aufgekommen sind, konnte zumindest nachgewiesen werden, dass bei autistischen Menschen andere Hirnareale aktiv werden, wenn sie soziale und emotionale Aufgaben lösen.*12
Im Hinblick auf die Borderline-Störung wiederum hat eine neuere Studie der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III der Universität Ulm ergeben, dass die Aktivität von Spiegelneuronen überdurchschnittlich ausfällt, wenn es um die Beurteilung von Szenen von Verlust und Trauer geht.*13 Das deckt sich nicht nur mit dem aktuellen DSM5, sondern könnte auch erklären, warum trotz aller Probleme bei der Empathie, Borderline-Betroffene gemeinhin als einfühlsam gelten.
Echtes Mitgefühl
Auch wenn oberflächlich gesehen Menschen mit Borderline äußerst mitfühlend gegenüber anderen zu sein scheinen, muss hier in aller Regel vielmehr von einer Sensibilität im Sinne eines erhöhten Alarmismus im Hinblick auf die Stimmungen anderer gesprochen werden. Zu einem tieferen Mitgefühl im eigentlichen Sinne sind die meisten Betroffenen nämlich ausdrücklich nicht in der Lage*4 , was meiner eigenen Ansicht nach direkte Folge des ständigen Gefühls der existenziellen Bedrohung ist, welches Betroffene ihr Leben lang begleitet.*14*15 Bei näherer Betrachtung wird nämlich klar, dass ein Rückgang von Mitgefühl eine zentrale Voraussetzung dafür ist, sich gegen Bedrohungen effektiv zur Wehr setzen zu können. Mitgefühl hingegen hat meist einen hemmenden Einfluss auf Aggressionen.
Nicht unerwähnt bleiben soll abschließend auch eine von Salgado et al. durchgeführte Übersichtsarbeit, welche zwischen den Jahren 2000 und 2019 durchgeführt wurde. Diese hat 45 Originalstudien im Hinblick auf Borderline und Empathie untersucht.*16
36 davon zeigten dabei ein Empathiedefizit von Borderlinern, während acht Studien sogar eine erhöhte emotionale Empathie zum Ergebnis hatten. Keine der Studien berichtete hingegen über eine verbesserte kognitive Empathie, soziale Kognition oder emotionale Intelligenz.
Ganz im Gegensatz dazu und in völligem Kontrast zu den gängigen Klischees über Autismus sind Autisten sehr wohl zu echtem Mitgefühl in der Lage*17 und verfügen darüber hinaus sogar oft über ein überdurchschnittliches Bewusstsein für Recht und Unrecht. Dies mag auch daran liegen, dass viele Betroffene selbst im Laufe ihres Lebens Opfer von Benachteiligungen geworden sind. Ob und wie sehr Menschen mit Autismus diese Fähigkeiten schließlich ausspielen können, hängt nicht zuletzt auch von der jeweiligen Förderung des Einzelnen ab, welche das Verständnis für soziale Regeln und Situationen als solches verbessert.
Tom Harrendorf ist diagnostizierter Asperger-Autist, Selbsthilfegruppenleiter, selbstständiger Berater und Gründer der Seite autismusspektrum.info. Er veröffentlicht seit 2018 regelmäßig Podcasts und Fachbeiträge zu den Themen Autismus, Borderline und anderen psychologischen Themen. Auf YouTube und anderen Kanälen begeistert er damit aktuell 20.000 Abonnenten.
Quellen:
1 Tebartz van Elst (Hrsg.) – Das Asperger-Syndrom im Erwachsenenalter, 2013, S.223
2 Falkai/Wittchen (Hrsg.) - Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5, 2015, S.64
3 Falkai/Wittchen (Hrsg.) - Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5, 2015, S.1053
4 Kernberg - Borderline-Störungen und pathologischer Narzissmus, 2017, S.59
5 Kreisman/Straus - Ich hasse dich verlass mich nicht, 2000, S.53
6 Niklewski/Riecke-Nicklewski - Leben mit einer Borderline-Störung, 2020, S.39
7 https://www.hf.uni-koeln.de/data/ps/File/Kissgen%20&%20Schleiffer%202002.pdf
8 https://www.hf.uni-koeln.de/data/ps/File/Kissgen%20&%20Schleiffer%202002.pdf
9 Riedel/Clausen - Autismus-Spektrum-Störungen bei Erwachsenen, 2020, S.27
10 https://www.springermedizin.de/borderline-typus/empathie-und-persoenlichkeitsstoerungen-aus-neurobiologischer-si/15848704
11 https://www.spektrum.de/news/bei-autisten-ist-die-funktion-der-spiegelneuronen-gestoert/776478#
12 Dankova - Autismus-Spektrum-Störung: Asperger-Syndrom, 2020, S.30
13 https://www.derstandard.de/story/2000100171463/spiegelneuronen-im-gehirn-bei-borderline-patienten-gestoert
14 Kernberg - Borderline-Störungen und pathologischer Narzissmus, 2017, S.26
15 Kreisman/Straus - Ich hasse dich verlass mich nicht, 2000, S.29
16 https://journals.lww.com/hrpjournal/Fulltext/2020/07000/Dysfunction_of_Empathy_and_Related_Processes_in.2.aspx
17 Attwood – Leben mit dem Asperger-Syndrom, 2019, S.190
Comments