Einmal Autismus, immer Autismus – ist dieses Dogma endlich vorbei?
- Tom Harrendorf
- 7. Juni
- 6 Min. Lesezeit

Seit Jahren setze ich mich als diagnostizierter Autist dafür ein, Autismus nicht mehr als lebenslanges Schicksal anzusehen – zumindest nicht kategorisch. Sowohl meine persönliche Lebensgeschichte als auch meine 15-jährige Arbeit mit autistischen Menschen haben mir gezeigt, dass sich manche Autisten praktisch aus dem Autismus-Spektrum „herausentwickeln“ und ihre Symptome verlieren.*1 Diese Entwicklung ging stets mit einer erheblichen Verbesserung der Lebensqualität einher. Für diesen Einsatz wurde ich jedoch oft kritisiert, meist von anderen Autisten, vereinzelt aber auch von Fachpersonen. Der Einwand: Für meine Behauptungen gäbe es, neben meinen eigenen subjektiven Erfahrungen, keinerlei wissenschaftliche Evidenz. Inzwischen ist jedoch klar: Doch, die gibt es!
„Auf Grund früherer Screenings und Diagnosestellungen sowie der Bereitstellung früher Interventionen können autistische Kinder heute positivere Resultate erwarten, als ihre Altersgenossen in früheren Jahrzehnten, einschließlich der Möglichkeit, die Diagnose vollständig zu verlieren.“ – Prof. Dr. Inge-Marie Eigsti*2
Die aktuelle Studienlage
Es ist erstaunlich, wie selten sich die öffentlichen Behauptungen über Autismus mit der tatsächlichen Studienlage decken. Ein 2024 publiziertes Review von Prof. Dr. Inge-Marie Eigsti, einer renommierten Kapazität im Bereich Autismus, analysierte die bisherige Studienlage zum Thema Entwicklung von 2004 bis 2023 und kam zu dem Ergebnis, dass schätzungsweise 10 bis 20% der Betroffenen bis zur Pubertät alle Autismussymptome verlieren.*2 In das Review eingeschlossen waren Untersuchungen namenhafter Autismusexperten wie Christopher Gilberg und zeigten den Effekt auch dann, wenn die Diagnosen unzweifelhaft und gesichert waren.

Bereits 2019 untersuchte zudem ein größerer Artikel von Tori DeAngelis, veröffentlicht auf der Internetseite der American Psychological Association (APA), die Gründe dafür, warum manche Kinder mit Autismus ihre Symptome verlieren.*3 Das Resultat: Insbesondere die soziale Interaktion und Übung mit anderen scheint dafür verantwortlich zu sein, dass sich die (sozialen) Fähigkeiten autistischer Kinder verbessern und sich die autistischen Symptome verringern.*3 Zum selben Resultat kam auch eine 2022 durchgeführte Studie von Li und Kollegen, die zeigte, dass autistische Kinder das Potenzial haben, Empathie zu erlernen und zu verbessern.*4
Auch im Bereich der Frühförderung gibt es inzwischen eindrückliche Beweise dafür, dass entsprechende Interventionen die Herausbildung autistischer Symptome verzögern oder vollständig verhindern können. Whitehouse und Kollegen (2021) fanden heraus, dass „der Erhalt einer präventiven Intervention gegen Autismus ab einem Alter von neun Monaten […] zu einer Verringerung der Schwere der Autismus-Symptome“ führte und die Wahrscheinlichkeit einer Autismus-Spektrum-Störung im Alter von drei Jahren verringerte.*5
Es kommt zu Missverständnissen
Wenn die tatsächliche Datenlage jedoch die Aussage, dass Autismus nicht in allen Fällen lebenslang sein müsse, stützt, wieso kommt es dann zu Kritik oder Anfeindungen? Dies hat meiner Ansicht nach drei hauptsächliche Gründe:
1) Unkenntnis:
Viele Personen, welche Autismus als lebenslanges Schicksal betrachten, wissen schlicht und ergreifend nicht, was in den entsprechenden Studien zum Thema tatsächlich steht, beziehen sich auf veraltete Literatur oder glauben an mediale Klischees, welche über Autismus verbreitet werden. Auch Prof. Eigsti betont in ihrer Übersicht, dass heute mit Autismus diagnostizierte Kinder „positivere Resultate erwarten können, als ihre Altersgenossen in früheren Jahrzehnten, einschließlich der Möglichkeit, die Diagnose vollständig zu verlieren."*2 Die bessere Prognose gehe vor allem auf die frühere Stellung der Diagnose und weiterentwickelte Fördermöglichkeiten zurück.*2
2) Missverständnisse:
Das häufigste Missverständnis über Autismus und den Verlust von Symptomen stellt eine Verwechselung von Ausprägung („Phänotyp“) und Veranlagung („Genotyp“) dar. Es ist ein landläufiger Irrtum, dass entscheidend für die Diagnose oder das Vorliegen von Autismus dessen Veranlagung wäre. Richtig ist jedoch, dass Autismus bis heute rein symptomatisch diagnostiziert wird, weshalb ein Verlust der Symptome logisch-zwingend auch zum Verlust des eigentlichen Autismus führt.*6 Dies ist damit zu vergleichen, dass auch eine Veranlagung zu zum Beispiel Adipositas nicht automatisch auch zu einer tatsächlichen Ausprägung von Fettleibigkeit oder Mehrgewicht führt, wenn die Person einen sportlichen und bewussten Lebenswandel vollzieht. Auch kann eine bestehende Adipositas abgelegt werden, obwohl die Veranlagung unverändert bleibt.
Ein zweites Missverständnis ist es, dass der beobachtete Verlust von Autismussymptomen ausschließlich durch sogenanntes Masking oder Kompensationsleistungen entstehen würde.*1 Dies ist falsch, da die Studien eindeutig zeigen, dass Menschen im Autismusspektrum ihre Symptome wie Schwierigkeiten im Bereich Empathie oder der sozialen Fähigkeiten tatsächlich verbessern.*2*3*4*5 Die entsprechenden Symptome nehmen also tatsächlich ab. Zudem widerspricht ein Kompensationsversuch dem tatsächlichen Erwerb von Kompetenzen nicht, sondern stellt in Form von Übung vielmehr eine seiner Voraussetzungen dar.
3) Krankheitsgewinn:
Viele autistische Menschen erzielen durch das Label Autismus einen „Krankheitsgewinn“. Dies ist nicht abwertend gemeint. Der Krankheitsgewinn ist ein in der Psychologie gut untersuchtes und unumstrittenes Phänomen, nach welchem eine Person aus einer Erkrankung oder Störung einen Vorteil zieht.*7 Für den primär Betroffenen kann dies ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer bestimmten Gruppe sein oder die Erfahrung, auf Grund der Diagnose weniger vom Jobcenter schikaniert zu werden. Auch das Umfeld kann von der Erkrankung oder Störung profitieren, etwa die Eltern, welche auf Grund der Autismusdiagnose des Kindes Beachtung und Respekt erhalten oder Fachpersonen, welche durch die Diagnostik oder Behandlung Geld verdienen. Aus diesen und anderen Gründen kommt es nicht selten vor, dass manche Personen gerne autistisch sein wollen und den Gedanken an Weiterentwicklung ablehnen, da sie fürchten, mit dem Autismus auch ihren Bekanntenkreis oder ihre Unterstützung zu verlieren.*1*8*9
Aber was ist mit dem ICD-11?
Abschließend sei noch kurz darauf eingegangen, dass Autismus bisher im ICD-11 als lebenslange Störung beschrieben wird.*10 Diese Beschreibung sollte nicht davon ablenken, dass die aktuelle Studienlage scheinbar anders lautet, wenn auch nur für einen kleineren Teil der Betroffenen. Ich plädiere ohnehin nicht dafür, Autismus generell als „heilbar“ oder „überwindbar“ zu bezeichnen, aber ich plädiere dafür, Autismus nicht länger kategorisch als lebenslang anzusehen – das ist ein Unterschied! Zudem entwickelt sich unser Kenntnisstand über Autismus laufend weiter. Genau so, wie sich die ICD-Beschreibungen seit dem ICD-10 gravierend geändert haben, werden sich auch die Beschreibungen in der Zukunft weiter verändern. Wir sollten nicht von gestern sein. Ich persönlich gehe stark davon aus, dass sich die ICD-Beschreibungen in der nächsten Revision in einigen Jahren an die aktuellen Erkenntnisse anpassen werden. Zudem, und dies sei mir als kleine Bemerkung zum Abschluss gestattet, haben viele Kritiker auch keine Probleme damit, das Label „Störung“ beim Autismus-Spektrum anzufechten, obwohl es im ICD-11 so bezeichnet wird. Ich sehe deshalb keinen gravierenden Grund, weshalb nicht auch andere Aspekte des aktuellen Autismus-Konzeptes angezweifelt oder revidiert werden können, wenn die Datenlage dies offenbar nahelegt.
Tom Harrendorf ist diagnostizierter Asperger-Autist, Gruppenleiter im Bereich Autismus, selbstständiger Berater und Gründer der Seite autismusspektrum.info. Er veröffentlicht seit 2018 regelmäßig Podcasts und Fachbeiträge zum Thema Autismus und weiteren psychologischen Themen. Auf YouTube und anderen Kanälen begeistert er damit rund 150.000 Abonnenten. Seine 2024 erschienene Biographie „Autismus verstehen" (mit Dipl. Psych. Melanie Matzies-Köhler) belegt seit Monaten die Amazon-Bestsellerliste in der Kategorie Autismus.
Quellen:
*1 Harrendorf, T., Matzies-Köhler, M. (2024). Autismus verstehen - 10 Prinzipien für ein besseres Leben: Brücken bauen zwischen den Welten durch Wissenschaft und Praxis (1.Auflage). Eulogia Verlags GmbH (Hamburg). ISBN: 978-3969674826
*2 Eigsti, I. (2024). The Autism Constellation and Neurodiversity. Pediatric Clinics Of North America, 71(2), 327–341. https://doi.org/10.1016/j.pcl.2024.01.003
*3 DeAngelis, T. (2019, April 1). Losing an autism diagnosis. Monitor on Psychology, 50(4). https://www.apa.org/monitor/2019/04/autism-diagnosis [Abgerufen: 01.06.2025]
*4 Li, B., Blijd-Hoogewys, E., Stockmann, L., Vergari, I. & Rieffe, C. (2022). Toward feeling, understanding, and caring: The development of empathy in young autistic children. Autism, 27(5), 1204–1218. https://doi.org/10.1177/13623613221117955
*5 Whitehouse, A. J. O., Varcin, K. J., Pillar, S., Billingham, W., Alvares, G. A., Barbaro, J., Bent, C. A., Blenkley, D., Boutrus, M., Chee, A., Chetcuti, L., Clark, A., Davidson, E., Dimov, S., Dissanayake, C., Doyle, J., Grant, M., Green, C. C., Harrap, M., . . . Hudry, K. (2021). Effect of Preemptive Intervention on Developmental Outcomes Among Infants Showing Early Signs of Autism. JAMA Pediatrics, 175(11), e213298. https://doi.org/10.1001/jamapediatrics.2021.3298
*6 Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. (DGKJP) & Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN). (2016). Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter. Teil 1: Diagnostik (Langversion). https://register.awmf.org/assets/guidelines/028-018l_S3_Autismus-Spektrum-Stoerungen_ASS-Diagnostik_2016-05-abgelaufen.pdf [Abgerufen: 01.06.2025)
*7 Merten, T. (2022). Krankheitsgewinn, primärer, sekundärer bzw. tertiärer im Dorsch Lexikon der Psychologie. Hogrefe. https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/krankheitsgewinn-primaerer-sekundaerer-bzw-tertiaerer [Abgerufen: 01.06.2025]
*8 Van Elst, L. T. [Hrsg.] (2013). Das Asperger-Syndrom im Erwachsenenalter: und andere hochfunktionale Autismus-Spektrum-Störungen (1. Auflage, S. 127). Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft (Berlin). ISBN: 978-3954662203
*9 Dose, Mathias (2021): Wunschdiagnose bzw. Modediagnose "Autismus" bei Erwachsenen https://www.autismusspektrum.info/post/wunschdiagnose-bzw-modediagnose-autismus-bei-erwachsenen [Abgerufen: 01.06.2025]
*10 World Health Organization [Hrsg.] (2025). ICD-11 for Mortality and Morbidity Statistics. https://icd.who.int/browse/2025-01/mms/en#437815624 [Abgerufen: 01.06.2025]
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