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Autismus ist nicht „die Norm“ – was mich am Modeautismus stört


Tom Harrendorf
Tom Harrendorf

Das Label Autismus ist von einer medizinischen Diagnose zu einem Wohlfühl-Etikett geworden, welches sich jeder anstecken kann, der möchte. Dazu heißt es zum Beispiel auf der Plattform Tiktok von der Nutzerin „ninja“: „Ich sage sogar Autismus ist die Normalität“. Nutzer*in „Sunday“ kommentiert mir unter einem Beitrag, in welchem ich über meinen Schwerbehindertenausweis spreche: „Autismus ist keine Behinderung. Wartet alle mal noch 10 Jahre, dann ist das die Norm. Diese Stigmatisierung ist ekelhaft. Wir sind alle verschieden mit anderen Bedürfnissen.“

 

Ich selbst habe meine Diagnose auf Autismus vor 20 Jahren in der geschlossenen Kinder- und Jugendpsychiatrie erhalten. Für das „Asperger-Syndrom“ habe ich einen Schwerbehindertenausweis und gelte zudem als dauerhaft erwerbsgemindert. Die Diagnose hatte für mich stets die wichtige Funktion, meine Schwierigkeiten, Lebensprobleme und Eigenarten gegenüber anderen ausweisen zu können. Diese Funktion hat sie jedoch in den letzten Jahren verloren, da es gesellschaftlich „normal“ geworden zu sein scheint, das Label Autismus zu tragen, ganz unabhängig davon, ob entsprechende Lebensprobleme bestehen, oder nicht. Mehr noch: Ich als schwerbehinderte Person werde dafür beschimpft, Autismus als Behinderung zu sehen. Dadurch schließt sich der Kreis, dass die Diagnose vollständig von hochfunktionalen Personen vereinnahmt und beansprucht wird und ich als behinderte Person zum Außenseiter innerhalb des eigenen Spektrums werde.

 

Für mich tragen vor allem Fachpersonen und Medienschaffende eine erhebliche Verantwortung für diese Entwicklung. In vielen Beiträgen zum Thema werden die Kernkriterien von Autismus gar nicht mehr benannt. Diese Kernkriterien umfassen nach den gängigen Diagnosesystemen Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion und Kommunikation sowie ausgeprägte Tagesroutinen und Spezialinteressen. Wahrnehmungsbesonderheiten oder „Hochsensibilität“ kommen zwar häufig vor, betreffen jedoch nicht alle Menschen im Spektrum gleichermaßen. In vielen der entsprechenden Medienbeiträge wird Hochsensibilität jedoch als der Kern von Autismus beschrieben; oft wird zudem suggeriert, dass jeder der hochsensibel sei, auch autistisch sein könnte. Soziale Probleme werden unterschlagen, sei es, weil sie für die Medienschaffenden nicht interessant genug erscheinen oder die Leser verärgern könnten.


Die Diagnosekriterien von Autismus nach ICD-11, Tom Harrendorf
Autismus im ICD-11: Soziale Schwierigkeiten zählen zu den Kernkriterien.

Auch Fachleute haben eine Mitverantwortung. Diese reicht von der teilweisen Verhätschelung von Autismus als „Superkraft“ bis hin zu der massenhaften Vergabe von Autismus-Diagnosen an Personen, welche die Kriterien nicht oder nur teilweise erfüllen. In der Folge werden zudem wichtige durch die Krankenkassen finanzierte Diagnosekapazitäten von Personen belegt, welche nach eigener Aussage gar keine klinische Beeinträchtigung aufweisen.


In der Aufklärung, der öffentlichen Debatte sowie in der Handhabung durch Ärzte muss sich etwas ändern. Andernfalls werden jene Autisten, welche den größten Hilfebedarf haben, von jenen Betroffenen oder vermeintlich Betroffenen verdrängt, welche Autismus als bloßes Wohlfühl-Label benutzen. Dies ist zum Teil schon jetzt der Fall, wenn sogenannte „frühkindliche Autisten“, also oft nonverbale Betroffene mit eventueller Intelligenzminderung, medial nicht mehr gezeigt werden und Autisten mit Hochschulstudium die öffentliche Wahrnehmung dominieren.


Buch: Tom Harrendorf, Dipl. Psych. Melanie Matzies-Köhler: Autismus verstehen - 10 Prinzipien für ein besseres Leben
Buch: Tom Harrendorf, Dipl. Psych. Melanie Matzies-Köhler: Autismus verstehen - 10 Prinzipien für ein besseres Leben

Einige Leser kritisierten an meiner Biographie, dort werde „nur stereotyper Autismus“ gezeigt. Das Buch, von der bekannten Diplom-Psychologin und Autismusexpertin Melanie Matzies-Köhler geschrieben, beschreibt meinen persönlichen Werdegang als Autist. Dass es heute ein Kritikpunkt zu sein scheint, dass die Biographie eines Autisten auch typische Autismus-Merkmale enthält, ist symptomatisch für das Gesamtproblem. Wenn es zudem akzeptiert wird, dass schwerbehinderte Personen für das Sprechen über ihre Behinderung als „ekelhaft“ bezeichnet werden, ist dies eine alarmierender Zustand. Autismus ist teilweise zu einem identitätspolitischen Phänomen geworden, bei welchem sich die Aktivisten von „echten“ Behinderten gestört fühlen und man jeden Eindruck von Kontaktschuld vermeiden möchte.

 

Damit soll nicht gesagt sein, dass hochfunktionale Autisten nicht ebenfalls einen erheblichen Leidensdruck haben können oder Autismus ein reines Modephänomen sei. Trotzdem sollte das medizinische Label für klinisch relevante Fälle exklusiv bleiben, da es andernfalls seine Bedeutung verliert. Wenn Autismus irgendwann „die Norm“ ist, wie Nutzer*in Sunday sagt, was wird dann aus jenen Autisten, für welche das Label ursprünglich geschaffen wurde? Zudem finde ich es höchst problematisch, wenn Personen, welche nach eigenem Bekunden weder Lebensprobleme noch Einschränkungen haben, sich neben schwerbetroffene Autisten stellen und ihnen erklären, was Autismus sei.



Tom Harrendorf ist diagnostizierter Asperger-Autist, Selbsthilfegruppenleiter, selbstständiger Berater und Gründer der Seite autismusspektrum.info. Er veröffentlicht seit 2018 regelmäßig Podcasts und Fachbeiträge zu den Themen Autismus, Borderline und anderen psychologischen Themen. Auf YouTube und anderen Kanälen begeistert er damit aktuell 150.000 Abonnenten.

7 Kommentare


Nice sharing. The article discusses how the label of autism has shifted from a medical diagnosis to a socially adopted identity, often detached from actual disabilities. The author, diagnosed with autism 20 years ago and holding a severe disability certificate, highlights how high-functioning individuals now claim the label, sometimes undermining those with genuine impairments. Social media and media portrayals often oversimplify autism, emphasizing traits like high sensitivity while ignoring core diagnostic criteria such as difficulties in social interaction, communication, and rigid routines.

Check Out My Other Resources:

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https://www.cartergroupland.com/articles/what-s-hot-what-s-not

https://cx.usiu.ac.ke/ICS/Campus_Life/Campus_Groups/Financial_Aid/Home.jnz?portlet=Blog&screen=View+Post&screenType=next&&Id=d7719f4c-f202-4f82-a5b1-a8fa07f82771

https://www.marugin-s.com/group/marugin-shang-diannopejigurupu/discussion/6d735889-f879-4d8b-b4f8-d0a8d2af3c87?commentId=b99aa17c-4c9a-4199-b1a7-d42861e84844

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Kirill
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07. Sept.

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arachnuss
30. Aug.

Ich habe meine Autismus Diagnose bereits als Kind im Jahr 2008 nach einem stationären Klinikaufenthalt erhalten und es regt mich extrem auf, dass die Diagnose Autismus neuerdings als eine Art Synonym für "Hippie" oder "Nerd" benutzt zu werden scheint und sich jeder dieses Label einfach selbst aufkleben kann. Sogar Leute ohne Diagnose laufen seit einigen Jahren herum und verwenden den Begriff missbräuchlich in einer stark verharmlosenden Art und Weise. Manchmal wünsche ich mir tatsächlich fast, dass Autismus wieder etwas stärker stigmatisiert werden würde, damit Ärzte, Ämter und Gesellschaft das Thema endlich wieder ernst nehmen. Die Bagatellisierung von Autismus als Krankheit hat dazu geführt, dass sich tatsächlich betroffene Personen mit nicht erfüllbaren Erwartungshaltungen konfrontiert sehen und auch nicht mehr die Hilfe…

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Ich finde es wichtig, dass du ansprichst, wie schädlich dieser „Modeautismus“-Trend sein kann. Es ist eben kein Lifestyle, sondern eine echte Realität. Um mein Wohlbefinden zu stärken, habe ich angefangen, nahrungsergänzungsmittel kaufen – das hilft mir spürbar im Alltag, besonders wenn alles zu viel wird.

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