„Ich werde mich in Zukunft nicht mehr mit meinen Freundinnen treffen können, da ich um meine Arbeitskraft fürchten muss.“
Solche und ähnliche Entscheidungen treffen Autist:innen nicht selten; für den Beruf und gegen die eigenen Bedürfnisse. Frau Bauer* beschrieb, wie es dazu kam:
„Mich mit meinen Freundinnen zu treffen, gehört zu den glücklichsten Momenten in meinem Leben. Das Problem ist, dass diese Treffen in letzter Zeit immer mehr „ausarten“. Die anderen finden kein Ende, während ich spätestens nach eineinhalb oder zwei Stunden am Ende meiner Kräfte bin. Nach unseren letzten Zusammenkünften hatte ich jeweils am Abend eine Reizüberflutung und kam mit Mühe und Not am nächsten Tag aus dem Bett. Ich möchte meine Arbeit nicht verlieren und um meine Arbeitskraft zu schützen, bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als auf die Treffen mit meinen Freundinnen zu verzichten.“
Was ist Sensorische Integrationstherapie und wie kann sie helfen?
Die Sensorische Integrationstherapie wurde in den 1960er Jahren von Jean Ayres, einer Ergotherapeutin und Psychologin, in den USA entwickelt. Die zugrunde liegende Theorie befasst sich mit Veränderungen der Sinneswahrnehmung und wie sich diese auf motorische, kognitive und emotionale Prozesse auswirken. Wenngleich die SI-Therapie nicht für den Autismus entwickelt wurde, so ist sie zumindest in den USA bereits eine „der am häufigsten angewandten Methoden bei autistischen Kindern“ (Schoen et al., 2018, S. 1).
Studien der 1990er Jahre belegen, dass 85-90 % aller autistischen Kinder zusätzlich Auffälligkeiten in ihrer Wahrnehmung aufweisen (King, 1996, S. 5). 2011 ließen sich bei „über 95 % der autistischen Kinder“ Hyper- oder Hyposensitivität in verschiedenen Bereichen feststellen (Marco et al., 2011, S. 1). Weiterhin lassen sich „typisch autistische Verhaltensweisen, die bei 80 % der Menschen mit Autismus auftreten, durch Schwierigkeiten mit der sensorischen Modulation“ erklären (Schaaf et al., 2011, S. 374).
Inzwischen sind sogenannte Modulationsstörungen im DSM-5 als Diagnosekriterium für ASS fest verankert.
Modulation bei Sensorischer Modulationsstörung (SMD)
Adäquat zu modulieren bedeutet, anregende und hemmende Reize sensorisch derart auszubalancieren, dass es möglich wird, sich erfolgreich an die Veränderungen der Umwelt anzupassen (Bundy, Lane & Murray, 2007, S. 117).
Der DSM-5 beschreibt die SMD bei ASS als hyper- oder hyporeaktives Verhalten auf sensorische Stimuli, bzw. als sensorische Reizsuche. Er ordnet die Modulationsstörungen den restriktiven Interessen und Aktivitäten zu und stellt damit den Bezug zwischen besonderer Wahrnehmung und Verhaltensbesonderheiten her.
Die Wahrnehmungsbesonderheiten (Modulationsstörungen) sorgen für eine veränderte Filterfunktion. So werden Reize aus der Umwelt, z.B. das Hören, Sehen, Riechen, Schmecken und Tasten sowie Reize aus dem Körperinneren, z.B. die Körperwahrnehmung (Propriozeption), Gleichgewichtsverarbeitung (Vestibulum) oder auch die Wahrnehmung der inneren Organe (viszerale Wahrnehmung; z.B. Hunger, Durst) zu intensiv oder zu wenig intensiv wahrgenommen. Die veränderte Intensität der Wahrnehmung führt durch eine Erhöhung des Stresslevels häufig zu einer inadäquaten Einschätzung der Situation, woraus inadäquate Reaktionen resultieren.
Wie sieht eine veränderte Wahrnehmung aus?
Man kann sich diese zu intensive Wahrnehmung wie folgt besser vorstellen:
Läuft man des Tags mit einem/einer guten Bekannten durch den Wald und ist in ein Gespräch vertieft, so wird man die gelegentlichen Geräusche am Wegesrand – ein Rascheln im Gebüsch, das Knacken eines Astes – kaum bemerken. Ganz sicher wird man diesen Geräuschen keine große Bedeutung beimessen. Ist man jedoch allein und des Nachts im selben Wald unterwegs, so wird man diese Geräusche ganz deutlich bemerken. Man wird in die Nacht lauschen und versuchen, Distanz und Richtung des Geräuschverursachers einzuschätzen. Man wird darüber nachdenken, wer diese Geräusche verursacht – eine harmlose Maus oder gar ein Wildschwein? Vielleicht beginnt das Herz schneller zu schlagen, die Atmung vertieft sich und man sieht zu, dass man schnellen Schrittes wieder aus dem Wald herauskommt.
Der gleiche Reiz kann also in unterschiedlicher Intensität wahrgenommen werden. Bei Menschen mit Modulationsstörung geschieht das Ganze kontextunabhängig. Somit können die Geräusche bei einer auditiv empfindlichen Person auch des Tags in vertrauter Begleitung ähnliche Stresssymptome hervorrufen.
So wenig wie sich Autismus „verwächst“, verschwinden auch Modulationsstörungen einfach so. Somit sind auch autistische Erwachsene täglich vielfach Reizen ausgesetzt, die sie in Unruhe versetzen und sich emotional und kognitiv auswirken.
Modulationsstörung und Stress
Autist:innen stehen häufig unter enormem Stress. Stress ist definiert als „Belastung, Störung oder bei zu hoher Intensität eine Überforderung der psychischen und/oder physischen Anpassungskapazitäten“ (Vesper 1976 zit. n. Rensing et al., S. 4). Diese Belastung geht mit Gefühlen wie Angst, Ärger, Aggressivität, Hilflosigkeit und physischen Reaktionen wie Herzklopfen, Magendrücken oder Schweißausbrüchen einher (Henry 1992 zit. n. Rensing et al, S. 4). Auch sensorische Reize wie „auditorische, visuelle und olfaktorische Reize [können] Stress auslösen, wenn sie überschwellig sind“ (Rensing et al, S. 76). Überschwellig sind Reize, wenn der tatsächliche vom erwarteten Input abweicht. Ist dies der Fall, so entsteht Angst (vgl. Gray zit. n. Bundy et al., S. 130).
Akute Folgen sensorischen Stresses
Die massivste Reaktion auf ein Zuviel an Reizen ist die Reizüberflutung: Zu viele Reize gelangen ins Bewusstsein, erhöhen die Stresssymptome und legen letztlich das System lahm. Betroffene berichten von Vorboten wie Ohrensausen, Kopfschmerzen, dem Gefühl sich „aufzulösen“ (zu dissoziieren). Manche versuchen der Reizüberflutung durch massiven Input an propriozeptiven Reizen entgegenzusteuern, die manchmal zu „selbstverletzendem Verhalten“ ausufern: „Wenn ich nichts mehr geregelt bekomme und alles über mir zusammen zu kippen droht, schlage ich manchmal mit dem Kopf gegen Schränke oder Türen. Irgendwann tut es so weh, dass sich die Überflutung kurzzeitig ausblendet.“ (Schuster, Ein guter Tag ist ein Tag mit Wirsing, 2007)
Ist die Reizüberflutung nicht mehr aufzuhalten, so „summieren sich all die einströmenden Reize derart, dass sie nicht mehr einzeln wahrgenommen werden können, sondern zu einem lauten Chaos verschmelzen“ (Miller, Ergotherapie bei Autismus, 2020). Betroffene können sich kaum noch auf den Beinen halten, sinken erschöpft auf ihr Bett oder einfach auf den Boden und es folgt ein oft mehrstündiger Schlaf.
Diese akuten Reaktionen auf eine Reizüberflutung werden nicht nur als massiv und bedrohlich erlebt. Klient:innen schildern, dass sie aufgrund wiederkehrender Reizüberflutung um ihre Arbeitskraft fürchten. Sie meiden daraufhin z.B. soziale Situationen, damit sie stabil bleiben und den Anforderungen ihres Jobs gerecht werden.
Längerfristige Folgen sensorischen Stresses
Aus der Sorge vor den Folgen einer Reizüberflutung reagieren viele Klient:innen mit sozialem Rückzug. Sie priorisieren also klar und verzichten auf „die schönen Dinge im Leben“, um ihre Arbeitskraft zu erhalten. Dieses beachtenswerte Vorgehen mindert nicht, dass so kein erfülltes Leben aussehen sollte.
Zusätzlich entsteht eine Art Erwartungsangst, die zu weiterem Rückzug vor der Umwelt führt. Wer nicht genau weiß, welche Situationen und Sinneseindrücke ihn oder sie an die Grenzen bringen, der wird insgesamt zurückhaltender in der Interaktion mit der Umwelt.
Neben der emotionalen Manifestation kommt es zusätzlich zu Auswirkungen auf die kognitiven Funktionen.
Wer gestresst ist – sich also vermeintlich in Gefahr befindet – weitet seine Aufmerksamkeit, um rechtzeitig zu erkennen, wovor und wohin er fliehen oder wogegen er kämpfen muss. Eine geweitete Aufmerksamkeit schwächt die Filter zusätzlich, um „nichts zu verpassen“. Sich in dieser Situation auf eine Aufgabe zu fokussieren, ist deutlich erschwert, da ständig Signale aus der Umwelt wie Alarmsignale ins System eindringen und Aufmerksamkeit zur Abwägung erfordern (Ashton in Bundy et al, S. 130).
Strategien der Sensorischen Integrationstherapie
Mithilfe von Sensorischen Fragebögen werden überempfindliche Wahrnehmungsbereiche identifiziert. Während es bisher lediglich Fragebögen für Kinder bis zu einem Alter von 15 Jahren auf dem Markt gibt (Sensory Profile-2) und sich Therapeuten bei der Diagnostik von Jugendlichen und Erwachsenen „irgendwie behelfen“ mussten, hat die SIGA (Sensory Integration German Association) nun einen Fragebogen aus dem Amerikanischen übersetzt, der genau diese Lücke füllt. Noch im Standardisierungsprozess für den deutschsprachigen Raum befindlich, ist er bereits online zu erhalten: https://thespiralfoundation.org/adult-adolescent-sensory-history-2/#ash-deutsch
Neben der Ergründung der Sensorischen Überempfindlichkeiten gilt es, im Coaching-Gespräch einen Blick auf den (beruflichen) Alltag der Klient:innen zu werfen, um herauszufinden, in welchen Situationen es zu besonderen Belastungen kommt. Dann werden Strategien der Sensorischen Diät besprochen.
Sensorische Diät
„Sensorische Diät bedeutet Verzicht auf Reize, auf die das Sinnessystem überempfindlich reagiert“ (M.Miller, Ergotherapie bei Autismus, 2020) und damit Stress verursacht.
Anhand der Fragebögen lässt sich ableiten, welche Sinneseindrücke besonders zur Erhöhung des Stresspegels führen. Diese gilt es zu reduzieren.
Liegt z.B. eine auditive Überempfindlichkeit vor, so wird zunächst überprüft, wo sich der auditive Input regulieren lässt:
Sind elektronische Geräte auf Standby und verursachen leise, aber störende Geräusche? –> Stecker ziehen oder schaltbare Steckdosen installieren
Schlagen die Schranktüren laut zu? -> Dämpfer installieren
Stört im Schlafzimmer der Lärm von draußen? -> Schlafzimmer tauschen
Sind Staubsauger und Wasserkocher zu laut? -> ANC- Hörschutz tragen
Solche und ähnliche Maßnahmen können das Stresslevel geringhalten, so dass sich daraus mehr Kapazitäten für die unberechenbaren Stressoren des Alltags ergeben.
Dennoch kommt es immer wieder zu Situationen, in denen man sensorischem Input ausgeliefert ist. Hier eignen sich die Maßnahmen der Sensorischen Hemmung.
Sensorische Hemmung
Wer sich mit dem Hammer auf den Daumen schlägt, drückt automatisch den Daumen ganz fest und glaubt nach einem Moment, der Daumen tue gar nicht mehr weh. Wenn er jedoch den Druck auf den Daumen verringert, spürt er es sogleich: der Schmerz besteht fort.
So wie der Druck auf den Daumen den Schmerzreiz überlagert, können verschiedene Reize oder Strategien die Filtersysteme aktivieren, wodurch auch ein empfindlicher Mensch einen Reiz plötzlich adäquat verarbeiten kann.
Tiefdruck
Ein Klassiker in diesem Zusammenhang ist der Einsatz von Tiefdruck. Da Tiefdruck jeden Sinnesreiz überlagern kann (sogar den Schmerz), eignet er sich in besonderem Maße zur Regulation sensorische bedingten Stresses. Einsatz findet er z.B. über Gewichtsdecken oder -kissen, Druckwesten oder auch durch den Einsatz von Kraft, z.B. beim Sport oder der Gartenarbeit.
Vorwissen
Auch durch Vorwissen lässt sich sensorischer Input hemmen. Wenn ich bereits weiß, was ich zu erwarten habe, welche Reize gleich auf mich einwirken, kann ich mich innerlich wappnen. Reize werden adäquat und eben nicht überschwellig wahrgenommen. Für Vorwissen kann man jedoch nicht allein sorgen. Familien und Arbeitgeber sollten darüber im Bilde sein, dass frühzeitige Information viel unnötigen Stress erspart und entsprechend möglichst bald ankündigen, wenn es Veränderungen gibt und wie diese aussehen werden.
Weitere Methoden der Sensorischen Hemmung
Zur Hemmung eignet sich weiterhin Kälte, Rhythmus, besonders würzige Lebensmittel oder Autonomie (Mitbestimmung) in veränderten Situationen.
Fazit
Die meisten Autist:innen leiden an einer stärker oder schwächer ausgeprägten Modulationsstörung, die in vielen Situationen Stress verursachen kann. Das Wissen um die Zusammenhänge ermöglicht häufig durch kleine und unkomplizierte Anpassungen, den Stress zu reduzieren und damit nicht nur den Alltag besser bewältigen zu können, sondern auch ein zufriedeneres Leben führen zu können.
Frau Bauer* hat im Coaching- Gespräch erkannt, dass sie nicht nur den Anfang, sondern auch das Ende eines Treffens selbst definieren kann. Sie trifft sich nun wieder mit ihren Freundinnen und diese wissen, dass sie sich nach etwa eineinhalb Stunden wieder verabschieden wird. Außerdem kennt sie nun Strategien, wie sie einen erhöhten Stresspegel durch den Einsatz von Tiefdruck und Kälte wieder herabsenken kann. Der nächste Schritt ist nun, sich ihre Arbeitssituation mit Tätigkeit und Arbeitsplatz genauer anzuschauen, um auch hier mögliche Anpassungen vorzunehmen, die ihren Stresspegel während des Arbeitstages stabil halten.
Meike Miller ist Ergotherapeutin und Coachin. Seit über 10 Jahren arbeitet sie mit erwachsenen Klient:innen aus dem Autismus-Spektrum. Der Umgang mit besonderer Wahrnehmung und dem damit einhergehenden Stress ist ein zentrales Thema ihrer Coachings und Fortbildungen. Regelmäßig berichtet sie in Fachzeitschriften für Ergotherapie oder Autismus über ihren Ansatz, die Sensorischen Integrationstherapie bei Autismus zu nutzen, um dadurch Stress zu reduzieren und Leistungsfähigkeit sowie Wohlbefinden zu steigern. 2020 erschien ihr Buch „Ergotherapie bei Autismus“ im Kohlhammer Verlag.
Quellenangaben
Schoen SA, Lane SJ, Mailloux Z, May-Benson T, Parham LD, Smith Roley S, Schaaf, RC. A Systematic Review of Ayres Sensory Integration Intervention for Children with Autism. Autism Research 2018; 12: 6–19. doi.org/10.1002/aur.2046
DSM-5, Diagnostic criteria 299.00, Autism Spectrum Disorder. Zugriff am 14.12.2020 unter https://iacc.hhs.gov/about-iacc/subcommittees/resources/dsm5-diagnostic-criteria.shtml
Edelson SM. A tribute to Lorna Jean King. New Developments 1996; 12: 5. www.devdelay.org/newsletter/articles/pdf/362-tribute-to-lorna-jean-king.pdf
Marco EJ, Hinkley L, Barett N, Hill SS, Nagarajan S. Sensory Processing in Autism: A Review of Neurophysiologic Findings. Pediatric Research 2011; 69: 48–54. doi:10.1203/PDR.0b013e3182130c54
Schaaf RC, Toth-Cohen S, Johnson S L, Outten G, Benevides TW. Everyday routines of families of children with autism. Autism, 2011: 15: 373–389. doi.org/10.1177/1362361310386505
Bundy AC, Lane SJ, Murray EA. Sensorische Integrationstherapie. Theorie und Praxis. 3. vollständig überarbeitete Auflage. Heidelberg: Springer; 2007. doi:10.1007/978-3-662-09865-3
Dunn W. Sensory Profile 2. 2017. Frankfurt: Pearson Deutschland.
Rensing L, Koch M, Rippe B, Rippe V. Mensch im Stress, Psyche, Körper, Moleküle. Berlin, Heidelberg: Springer; 2013.
N. McNaughton, J.A. Gray / Journal of Affective Disorders 61 (2000) 161–176
Schuster N, Ein guter Tag ist ein Tag mit Wirsing, Berlin: Weidler; 2007
Miller M, Ergotherapie bei Autismus, Stuttgart: Kohlhammer; 2020
* Name von der Redaktion geändert
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