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Nonverbale Kommunikation verstehen (für Autisten)


Melanie Matzies-Köhler
Melanie Matzies-Köhler

Anmerkung: Die Autorin spricht von „autistischen Menschen“ anstelle von „Menschen im Autismus-Spektrum“, da diese Ausdrucksweise einen flüssigeren Schreibstil ermöglicht.

Unter nonverbaler Kommunikation versteht man „Sprache ohne Worte“. Menschen „sprechen“ miteinander, auch wenn sie nicht reden. Eine schlecht gelaunte Person, die einen Raum betritt, wird eine entsprechende Ausstrahlung haben, die anhand von „mikromimischen“ und sonstigen, durch die Person entsandten, Signalen spürbar wird. Nonverbale Signale umfassen demzufolge mimische Äußerungen (Ausdruck von Gefühlen), die sich im Blick, in Gesten (zum Beispiel „Piepvogel“) und in der Körperhaltung zeigen können (zum Beispiel gebeugte Haltung). Dieser Bereich umfasst circa 55% der Kommunikation. Redet die Person, kann sie durch die Wortwahl und die Betonung des Gesagten eine Haltung bzw. ein Gefühl demonstrieren. Dieser Bereich umfasst 38% der Kommunikation. Es bleiben also nur noch 7%, die für das „rein Gesagte“ in Form von Wörtern steht. Circa 93% der menschlichen Kommunikation ist somit nonverbal.


Die meisten „neurotypischen Menschen“, die mit nonverbaler Kommunikation konfrontiert werden, haben keine oder wenig Probleme, diese Sprache zu entziffern. Menschen verfügen im Allgemeinen über eine „intuitive Psychologie“, die ihnen diese Fähigkeit ermöglicht. Sie wissen automatisch, dass sich die Traurigkeit einer Person in Form von Tränen offenbart, eine wütende Person rot anlaufen und schreien kann und so weiter. Diese Fähigkeiten werden bereits im Säuglings- und Kleinkindalter im Rahmen der interaktiven Begegnung mit Bezugspersonen erworben. Aufgrund der anderen, primär auf Strukturen, Formen und Mustern angelegten Reizpräferenz bei später autistisch diagnostizierten Menschen, fällt der frühe Bezug auf Gesichter, die Mimik enthalten, weg und die Basiskompetenzen werden schwerer und später erworben.


Empathiefähigkeit: Auswirkung von nonverbaler Kommunikation auf die Interaktion zwischen Menschen


Wer über eine mentale, „intuitive“ Psychologie verfügt, kann Stimmungslagen, Absichten, Wünsche oder Überzeugungen anderer Menschen erkennen, ohne dass zwangsläufig etwas gesagt werden muss. Ein abschätzender Blick, eine wegwerfende Geste oder ein anerkennendes Schulterklopfen sagen im Grunde „alles“. Ein Grinsen während einer eigentlich ernsten Aussage verrät entweder Ironie oder gar Täuschungsabsichten. Während wir unsere intuitive Psychologie unbewusst und automatisch anwenden, beziehen wir auch immer den Kontext des Gesagten ein. Wer redet mit mir, in welcher Beziehung stehe ich zu dieser Person? Was ist die Situation, was sind vorausgehende Faktoren, was mögliche nachfolgende? Unser Gehirn macht all das scheinbar von selbst.


Sobald wir Absichten, Gefühle, Wünsche oder Überzeugungen anderer „lesen“, verhalten wir uns empathisch. Empathie ist nämlich ein Begriff, der aus zwei Komponenten besteht: Einmal die kognitive Empathie und einmal die affektive Empathie. Kognitive Empathie ist auch mit „Theory of Mind“ gleichzusetzen. Dies bezeichnet die Fähigkeit, zu erkennen, was andere wollen, fühlen, wünschen oder wovon sie überzeugt sind und all dies auch zu verstehen. Indem wir also Mimik, Körperhaltung und Gesten sehen, erkennen wir Gefühle etc. Die affektive Empathie dagegen ist das Mitgefühl, wenn wir eine Emotion erkannt haben. Eine Person reagiert also unmittelbar auf ein Gefühl einer anderen Person. Voraussetzung dafür ist aber eben das Erkennen der Emotion. (Anmerkung: Es gibt einen Unterschied zwischen Gefühl und Emotion. Eine Emotion führt zu einem Gefühl. Mit Emotionen wird der Gesamtbereich dessen erfasst, was vom Erleben und von der Erfahrung als Stimmung, Gefühlserregung und Affekt bezeichnet wird. Unter dem Begriff Gefühle ordnen wir diejenigen Emotionen ein, für die wir einen Namen kennen, zum Beispiel Angst, Hoffnung, Freude, Abneigung oder Enttäuschung.)

Wer empathisch ist, kann sein Verhalten auf andere Menschen abstimmen. Er berücksichtigt deren Gefühle und Gedanken für sein eigenes Handeln. So nehmen Menschen aufeinander Einfluss, sowohl positiv als auch negativ.


All diese Vorausführungen zeigen, dass Menschen aus dem Autismus-Spektrum im Umgang mit anderen Menschen durch eine fehlende oder gering ausgeprägte „intuitive Psychologie“ großen Hindernissen begegnen. Wer nur mit den 7% verbleibenden verbalen Signalen operiert, liegt oft falsch. Es kommt zu Missverständnissen, Zerwürfnissen und sozialem Rückzug. Wer keine kognitive Empathie besitzt oder diese im Kontakt mit anderen Menschen praktisch nicht anwenden kann (theoretisch können viele autistische Menschen ab einem gewissen Alter entsprechende Signale lesen oder deuten), der wird auch sein Verhalten nicht passend ausrichten können und vielleicht lachen, wenn jemand sich wehtut statt Trost zu spenden.


Wie können autistische Menschen ein nonverbales Kommunikationsverhalten „lernen“?


Der erste Schritt besteht darin zu erkennen, dass es diese nonverbale Sprache gibt und woraus/worin sie besteht. Jede einzelne Komponente (Mimik, Gestik, Körpersprache, Tonfall, Artikulation) kann wie eine Fremdsprache in Form von „nonverbalen Kommunikationsvokabeln“ auswendig gelernt werden. Das ist natürlich recht mühsam und braucht viel Zeit, zumal weitere, damit verbundene Kompetenzen wie Redewendungen, Metaphern, Ironie und Witze erkennen, sich anschließen.


Es ist aber möglich, mit Hilfe der oft sehr gut ausgeprägten intellektuellen Fähigkeiten, entsprechende Defizite im nonverbalen Kommunikationsverhalten zu kompensieren:


1. Verstehen, wie einzelne Gefühle sich mimisch, gestisch und körpersprachlich ausdrücken

2. Verstehen, wie Gefühle sich tonal bemerkbar machen

3. Verstehen, dass es Abstufungen in der Intensität von Gefühlen gibt

4. Verstehen, dass Gefühle sich auch mischen können (z.B. Trauer und Wut)

5. Den Zusammenhang von allem in Bezug auf eine bestimmte Situation herstellen

6. Verstehen, dass Menschen unterschiedlich reagieren können


Darüber hinaus gibt es Möglichkeiten, so genannte „beziehungsbasierte“ Therapieansätze zu nutzen, um die zwischenmenschliche Interaktion in einer 1:1-Situation durch echten Bezug zu Menschen herzustellen. Hierfür eigenen sich Ansätze wie „Floortime“, „Relationship Development Intervention“ oder „Sonrise“.

Da die Autorin aber über weniger Erfahrung mit letztgenannten Ansätzen verfügt als mit „instrumentellen“ Ansätzen, die im „Sozialtraining“ häufig vorkommen, wird sich in diesem Artikel auf eben solche beschränkt.

Zu den „instrumentellen“ Ansätzen zählen beispielsweise folgende Methoden des Sozialtrainings:


1. Emotionstrainig


Einfache Bildkarten, die Gesichter von Menschen in bestimmten Gefühlszuständen zeigen, können hier ebenso zum Einsatz kommen wie Strichzeichnungen oder digital nutzbare Trainingsprogramme. Viele Anbieter (von pädagogischen Fördermaterialien) und AutorInnen aus dem Autismus-Bereich (zum Beispiel auch Tony Attwood) bieten entsprechende Bildkarten oder Bücher an, die sich mit Mimik und Gestik sowie Körpersprache befassen. Speziell für AutistInnen gibt es Software-Programme wie den FEFA (Frankfurter Test und Training des Erkennens von fazialem Affekt, CD-Rom), den SCOTT (ein internetbasiertes Trainingsprogramm - Social Cognition Trainings-Tool & Emotionen Verstehen und Ausdrücken, kurz SCOTT&EVA, derzeit nicht verfügbar) oder für Kinder den Zirkus Empathico, der im Online-Format spielerisch Gefühle und empathisches Verhalten trainiert (Link für die eigene Verwendung bitte bei der Autorin erfragen).

Derzeit auch auf YouTube verfügbare Episoden von „The Transporters“ können für Kinder ebenfalls genutzt werden. The Transporters wurden u.a. von AutismusforscherInnen aus Großbritannien entwickelt. Sie nutzen Gleisfahrzeuge mit menschlichen Gesichtern, um Gefühle zu transportieren. Jede Episode befasst sich mit einer Emotion und dazugehörigen Situationen sowie empathischem Verhalten. Mimik wird hier auf besondere Art „übertrieben“ dargeboten, um sie verstehbar zu machen.

Am einfachsten ist es, Gefühle anwesender Bezugspersonen oder Freunde im Alltag zu thematisieren und zu visualisieren. So könnte eine Mutter beispielsweise Fotos von sich in diversen Zuständen anfertigen und bei entsprechender Gelegenheit ihre Gefühle benennen und erklären („Ich bin jetzt wütend, weil du wieder nicht aufgeräumt hast“). Sie könnte das Kind auffordern, sich ihr Gesicht anzusehen, wenn es wütende Gesichtszüge aufweist. Dies kann auch mit Tonfall, Gestik und Körperhaltung geschehen.


2. Theory of Mind-Training


Auch hierfür können o.g. „Tools“ des Emotionstrainings genutzt werden. Der Zirkus Empathico umfasst Übungen zur Empathie. Ansonsten gibt es bei autismushamburg.de entsprechendes Material für den kostenlosen Download: Autismus Hamburg


3. Social Stories


Social Stories nach Carol Gray sind soziale Lerngeschichten, die auf einfach und konkret eine soziale Kompetenz oder eine gesellschaftliche Gepflogenheit vermitteln und dabei auf schonende Art Verhaltensvorgaben unter Einbezug der Gefühle betreffender Personen machen. Es gibt keine Einschränkungen, was die Themen betrifft und jeder, der mit dem autistischen Menschen arbeitet/zu tun hat, kann sie schreiben. Es müssen nur ein paar Kriterien beachtet werden, die zum Beispiel auf Grays Seite zu finden sind.


4. Comic Strip Conversations


Carol Gray hat auch die Comic Strip Conversations erfunden. Dies sind illustrierte Interaktionen zwischen Menschen, die mit Hilfe von Comic Strip-Zeichnungen verdeutlicht werden. Dabei werden Personen, mit denen die autistische Person zum Beispiel ein Missverständnis hatte, gezeichnet und deren Gefühle (in Farben), Gedanken (in Gedankenblasen) und Worte (in Sprechblasen) abgebildet. Auf diese Weise kann rückwirkend ermittelt werden, was bestimmte Personen (sowie die autistische Person selbst) beabsichtigt, gefühlt, gedacht und wahrgenommen haben und es kann ein Abgleich mit der Realität erfolgen. Auch vorausblickend können solche Zeichnungen eingesetzt werden, um ein anstehendes Ereignis vorzubereiten.


5. Mixed Methods (Social Visuals)


Diesen Begriff gibt es bis dato nicht, ich habe ihn erfunden, um die Kombination von Social Stories und Visualisierungen zu bezeichnen. Wir schreiben hier beispielsweise auf, wie man fremde Menschen begrüßt. Zusätzlich zum Text fügen wir Bilder ein. Wir können das auch in Form von Filmen oder Power Points machen.


6. Nutzung von Filmmaterial (Anime-Serien, Soap Operas und so weiter)


Lieblingsserien der autistischen Personen (wie beispielsweise Animes) eignen sich hervorragend, um nonverbale Kommunikation zu studieren. Man muss nur den Ton ausstellen, ein Bild „anhalten“ und Deutungsversuche unternehmen. Da es sich um beliebte Charaktere handelt, wird die Motivation deutlich größer sein als bei normalem „Therapiematerial“.



Fazit


Es ist schwer, sich als autistischer Mensch gleichzeitig auf nonverbale Kommunikation und Gesprochenes zu konzentrieren, so dass die Gesamtheit vermutlich schon aus wahrnehmungsbedingten „Schwierigkeiten“ nicht registriert werden kann. Das Erlernen von nonverbaler Kommunikation nach Manier einer Fremdsprache kostet viel Energie und kann streckenweise auch unvollständig bleiben. Es könnte möglicherweise viel einfacher sein, Personen nach ihren Gedanken, Gefühlen und Absichten zu befragen. Selbstverständlich darf man dabei nicht immer mit wahrheitsgemäßen Antworten rechnen. Die Kombination aus theoretischem Wissen und Aussagen von Personen könnte aber dennoch eine höhere Trefferquote ergeben.


AutismusSpektrum.info

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