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Autismus und ADHS – Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Störungsbilder


Dr. Astrid Neuy-Lobkowicz

Erst in den letzten Jahren wurde deutlich, dass ADHS und Autismus häufiger gemeinsam vorkommen. Am deutlichsten ist diese Häufung in der Pubertät. In der Genforschung wurden erbliche Überschneidungen von ADHS und Autismus nachgewiesen. Man spricht sowohl bei ADHS wie auch bei Autismus von Spektrumstörungen. Die Abkürzung von Autismus-Spektrumstörung ist ASS. Spektrumstörung bedeutet, dass es fließende Grenzen gibt zwischen einer Normvariante mit nur bestimmten Persönlichkeitszügen bis hin zu schweren Krankheitsbildern mit ausgeprägter Symptomatik – also ein Kontinuum von autistischen Zügen oder ADHS-Zügen bis hin zu schweren Erkrankungen, die das Leben und das soziale Miteinander schwer beeinträchtigen.

Der Mensch ist ein biosoziales Wesen. Jedes Individuum macht seine eigenen Erfahrungen und diese prägen dann seine Empfindungen, seine Stimmungen, seine Meinungen und seine Grundeinstellung. Er kommt mit einer ihm eigenen genetischen Ausstattung zur Welt. Seine Erbanlagen, sozusagen das „Geflüster seiner Gene“, treten auch in Interaktion mit seinen Mitmenschen und seiner Umwelt. Jeder Mensch entwickelt im Laufe seines Lebens seine eigenen Problemlösestrategien, die beeinflusst werden von seiner Lebenserfahrung und seinen Genen.


Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) haben eine veränderte soziale Wahrnehmung und Gefühlserkennung. Es fällt ihnen schwer, die Gefühle ihrer Mitmenschen zu erfassen und soziale Situationen richtig einzuschätzen. Oft haben sie Schwierigkeiten, Mimik und Gestik ihrer Mitmenschen richtig zu deuten. Es fällt ihnen schwer, anderen Menschen in die Augen zu schauen und Blickkontakt zu halten. Dadurch wird die ohnehin schon vorhandene Schwierigkeit, soziale Situationen einzuschätzen, oder vorausschauend Situationen zu erkennen oder intuitiv zu handeln noch zusätzlich erschwert.


Das Gehirn der ASS-ler hat Probleme damit, Gefühle anderer Menschen unmittelbar zu erkennen. Diese Funktion, Gefühle zu erkennen als wesentlicher Teil der sozialen Kommunikation, beansprucht bei nicht betroffenen Menschen eine hohe Gehirnleistung. Da ASS-Betroffene diese Gehirnleistung nicht erbringen, gibt es in ihrem Gehirn mehr Leistungsreserven für andere Leistungen des Gehirns. Manche ASS-ler haben ganz erstaunliche Fähigkeiten, etwa ein fotographisches Gedächtnis, eine geniale mathematische Begabung oder einen ausgeprägten Geruchssinn. In ihrer Begabungsnische sind sie dann oft herausragend. So mancher kauzige, hochbegabte Professor ist ein hochfunktionaler Autist. Auch wenn er für den Nobelpreis nominiert sein kann, kommt er im normalen Leben oft ungewöhnlich schlecht zurecht. Sie denken analytisch, logisch, stringent, wobei sie sich in ihrem Detailwissen verzetteln und verlieren können. So genau wollen es die anderen meist gar nicht wissen, deswegen können sie ihre Mitmenschen schnell überfordern. Bei ihrer Detailgenauigkeit können sie das große Ganze aus dem Blick verlieren.

Wenn es um Gefühle, Einfühlungsvermögen und Empathie geht, ist ihre Ungeschicklichkeit und Starrheit oft erstaunlich. Manche von ihnen sind gefühlsmäßige Analphabeten. Bei aller Genialität kennen sie oft die einfachsten ungeschriebenen Gesetze des menschlichen Zusammenlebens nicht, eben weil diese ungeschrieben sind. Diese hochbegabten Autisten können in sozialen Interaktionen völlig versagen, Situationen ganz falsch einschätzen. Stirnrunzeln und Augenrollen der anderen zeigen das Unverständnis dafür, wie man sich so ungeschickt verhalten kann.


ASS-ler haben oft Probleme mit der Kommunikation und dem sozialen Verstehen. Sie können Witze, Ironie oder Sprichwörter schlecht erfassen, weil sie alles wörtlich nehmen und am Detail hängen bleiben.

Soziale Signale können sie oft nicht richtig deuten. Es fällt ihnen schwer zu erfassen, was ihr Gegenüber denkt, meint, fühlt und will. Sie können nicht intuitiv erfassen, wie ihr Gegenüber gestimmt ist und was er in diesem Moment braucht. Auch haben sie oft nur wenig Einfühlungsvermögen und eine schlechte Menschenkenntnis, weil sie soziale Situationen nicht richtig bewerten und deswegen nicht daraus lernen können.

Sie lieben es, stereotype eintönige Verhaltensmuster zu wiederholen und sie hassen Veränderung. Sie wollen sich mit Themen beschäftigen, die ihnen wichtig sind, auf die sie sehr hyperfokussiert sind. Sie hassen Small Talk, es ist für sie „sinnloses“ Gerede, reine Zeitverschwendung. Ablenkungen werden als störend erlebt.

ASS-Betroffene wollen ihre Aufgaben unbedingt zu Ende bringen, jede Ablenkung wird als Störung erlebt. Aber sie sind auch schnell reizüberflutet und reagieren gestresst und ungehalten, weil sie ungestört ihre Tätigkeiten fortsetzen wollen. Sie wollen sich nicht ablenken lassen, sind aber schnell gestört, weil sie alles wahrnehmen, ähnlich den ADHS-Betroffenen. Sie können sehr angespannt, sogar wütend werden, wenn eine unerwartete Veränderung eintritt.


Soziale Kontakte stressen ASS-ler, weil sie vom Wesentlichen ablenken. Betroffene sind durch soziale Interaktionen schnell überfordert und können dann gereizt reagieren, besonders wenn sie es mit mehreren Personen zu tun haben. Das ist auch so wegen ihrer Schwierigkeit, soziale Botschaften zu erfassen und angemessen auf sie zu reagieren. Am liebsten halten sie an täglichen Ritualen fest, diese geben ihnen Sicherheit.

Auch ihre Mimik kann sehr steif sein, die Sprache monoton und ausdrucksarm, als müssten sie unter großer Anstrengung ihr Verhalten und ihre Gefühle unter Kontrolle halten. Sie können nicht lügen und sie versuchen gar nicht erst, sich zu verstellen. Manchmal ist diese Ehrlichkeit schonungslos. Selbst Notlügen, um andere nicht zu verletzen, bringen sie oft nicht über die Lippen. Anderseits sind sie daher auch sehr ehrlich und authentisch, selbst wenn es ihnen schadet.


Oft ist die ASS auch mit einer Überempfindlichkeit für Geräusche und überhaupt für Sinneseindrücke gepaart. Betroffene können sich diesen so heftig empfundenen Sinneseindrücken nicht verschließen. In solchen Situationen können sie sehr gestresst und impulsiv reagieren.

Grundsätzlich sind Betroffene eher introvertiert. Sie können sich auch gut alleine beschäftigen. Viele ASS-ler halten sich ihre Mitmenschen auf Distanz und erleben Nähe und Körperkontakt als unangenehm, manchmal sogar als bedrohlich.


Vergleich von ASS-Betroffenen mit ADHS-Betroffenen


Der Vergleich von ASS-Betroffenen mit ADHS-Betroffenen ist interessant, weil sie teils ähnliche Probleme haben, aber aus ganz verschiedenen Gründen. Wenn ADHS und ASS sich überlappen, dann gibt das eine sehr individuelle Mischung.

So zum Beispiel im Arbeitsbereich:


Anweisungen und Aufgaben werden vom ASS- Betroffenen ganz genau befolgt. Es ist ihm oft unmöglich von der Aufgabenstellung abzuweichen. Betroffene verstehen Aufgabenstellungen ganz konkret und können kaum adäquat reagieren, wenn etwas Unerwartetes im Ablauf Flexibilität erfordert. ASS-ler bleiben leicht an Nebensächlichkeiten hängen, weil sie glauben, jedes Detail im Ablauf müsse genauestens abgearbeitet werden. Detailversessen können sie hier den Überblick verlieren, was sie an der Aufgabenlösung hindert.

Diese Genauigkeit kann Betroffene zu peniblen Rechthabern machen, die keinen Zentimeter von ihrer Meinung abweichen. Das macht sie langsam, zäh und anstrengend. Am liebsten mögen sie Routinearbeiten, weil deren Ablauf für sie einschätzbar ist. Sie fangen ihre Aufgaben rechtzeitig an, bekommen sie aber oft durch ihren Perfektionismus nicht fertig. Sie haben oft eine ganz genaue Planung, kommen aber mit der Zeit nicht hin, weil sie an Kleinigkeiten hängen bleiben. Veränderungen des geplanten Ablaufs verursachen bei ihnen Stress und Ärger. Sie haben ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Struktur und Verlässlichkeit bei hohem Pflichtbewusstsein bis zur Unbeugsamkeit.

Auch ASS-Betroffene neigen zu Endlos-Diskussionen, wenn sie sich gegen Veränderungen stemmen und auf ihren Prinzipien beharren. Sie sind weniger vergesslich und sie können sich auch für etwas motivieren, was keinen Spaß macht.

Das Hauptproblem der ASS-ler ist das Erkennen und Erlernen von sozialen Regeln und das Lesen von Gesichtsausdrücken, die nonverbale Kommunikation. Sie können sich oft selbst nur wenig wahrnehmen und ihre eigenen Gefühle nicht benennen. Je ausgeprägter dies ist, desto ausgeprägter ist auch ihre Empathiestörung und desto schlechter können sie sich in andere hineinversetzen.


Im Gegensatz dazu sind ADHS-Betroffene oft innerlich unruhig und suchen geradezu nach Ablenkung und äußeren Reizen, um einer langweiligen Tätigkeit zu entkommen. Langeweile ist ihnen ein Gräuel, sie haben ein großes Verlangen nach dem Abenteuer, dem Kick und neuen Reizen. Sie sind auch eher extrovertiert, reden gerne viel und oft und fühlen sich in Gesellschaft anderer wohl, wenngleich sie hier auch schnell reizüberflutet sein können. Sie springen von einem Thema zum anderen, vermeiden sich allzu sehr mit Details zu beschäftigen. Sie bekommen ihre Arbeiten nicht zu Ende, weil sie nach Ablenkung suchen. Nichts ödet sie mehr an als Routine und langweilige Tätigkeiten. Das geht auf Kosten der Sorgfalt und Zuverlässigkeit. Ihr Arbeitsstil ist eher oberflächlich. Sie verlieren ebenfalls ihre Ziele aus den Augen, aber nicht, weil sie am Detail hängen bleiben, sondern weil sie reizoffen sind und sie sich gerne mit anderen Dingen beschäftigen. Sie vergessen oft. Es fällt ihnen schwer, Arbeiten anzufangen und sie zu Ende zu bringen.

Kampf und Wettbewerb hingegen sind für sie eine Herausforderung, weil sie gerne gewinnen möchten. Sie sind flexibel und können ihre Meinungen und Stimmungen sofort ändern. Sie können aber schnell und intuitiv Situationen erfassen und niemand kann schneller als sie sehen, wo etwas Spannendes abläuft oder Gefahr im Verzug ist. Sie sind oft spontan und originell, aber wenig konstant und pflichtbewusst.

Sie können sehr empathisch sein, im nächsten Moment aber sehr ego-zentriert. In ihren Stimmungen sind sie sehr ablenkbar und schwankend. In ihrer Arbeitsweise eher chaotisch.


Jede Art zu sein, hat ihre Stärken


ASS-Betroffene zeichnen sich aus durch eine hohe Sachkompetenz, durch ihre Authentizität, Ehrlichkeit und Prinzipientreue. Sie können sehr hartnäckig argumentieren, wenn es ihnen um die Sache geht und sie legen kaum Wert darauf, anderen zu gefallen. Haben sie eine Meinung, sind sie fähig, sich dem Mainstream zu widersetzen und unbeugsam für ihre Überzeugungen einzustehen. Ihre Geradlinigkeit und ihr Spezialwissen werden in der Arbeitswelt sehr geschätzt, vorausgesetzt, sie finden den richtigen Platz. Ihre Berechenbarkeit und Beständigkeit, sowie oft ihre mathematische und naturwissenschaftliche Begabung, prädestinieren sie für Aufgaben, die Zuverlässigkeit und Präzision erfordern.

Die Stärken der ADHS-Betroffenen sind Kreativität, Einsatzfreude und Begeisterungsfähigkeit. Sie sind sehr flexibel und neugierig. Das prädestiniert sie zu flexiblen Allroundern. Ihre gute Kommunikationsfähigkeit und ihr Bedürfnis nach Abwechslung und Herausforderung machen sie oft zu Ideenproduzenten und Innovationstreibern, auf der Suche nach neuen Ideen und neuen Konzepten.

Aber auch in sozialen Bereichen sind sie häufig zu finden, weil sie Interesse für ihre Mitmenschen und Empathie haben.


Wenn beide genetischen Varianten, ASS und ADHS zusammen vorkommen, dann kommt es darauf an, welche Ausprägung der jeweilige Typ hat. Insofern gibt es immer ein individuelles Bild.



Zusammenfassung:

Für Betroffene ist es wichtig zu verstehen, warum sie so sind wie sie sind und nicht so, wie die anderen. Auch für Angehörige ist das wichtig. Die Ursache liegt eben nicht in der Kindheit, sondern sie ist genetisch vorgegeben. Es gilt, die jeweilige besondere Art zu erkennen und zu akzeptieren. Die unterschiedlichen Stärken- und Schwächenprofile bei ADHS und ASS können in besonderen Lebenssituationen eine ganz andere Bedeutung bekommen. Während zum Beispiel in Friedenszeiten der kommunikative und soziale ADHS-ler eher Vorteile hat, ist das in Kriegs- oder Krisensituationen genau umgekehrt. Der gefühlsarme, rationale ASS-Betroffene kann in Katastrophensituationen klar und logisch denken und er lässt sich nicht von Gefühlsstürmen mitreißen. Seine klare, überlegte Entschlossenheit und seine strukturierte Arbeitsweise kann hier sehr wertvoll werden.


ADHS-ler sind eher in aufregenden Bereichen gut aufgehoben: Medien, künstlerische Bereiche wie Schauspieler etc. oder aber als Pädagogen, Ärzte, Politiker.

ASS-ler sind in Sicherheitsdiensten und Contollerfunktionen gefragt, wie etwa Fluglotse, IT-Spezialist, als Forscher etc.


Die Menschheit hat sich in ihrer Vielfältigkeit entwickelt. Wir alle müssen lernen mit den genetischen Karten, die wir bekommen haben, ein gutes Spiel zu machen. Wir können unsere genetischen Karten nicht umtauschen, aber wir können lernen sie anzunehmen und mit ihnen einen guten Weg finden.


Sowohl ADHS wie auch ASS haben besondere, wenn auch unterschiedliche Ressourcen, die in unserer Gesellschaft auch gebraucht werden. Deshalb sind ADHS und ASS in aller erster Linie eine besondere Art zu sein und nur bei schwerer Ausprägung ein Krankheitsbild.




Über die Autorin:

Dr. Astrid Neuy-Lobkowicz ist Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie. Studium der Humanmedizin in Mainz und Heidelberg, Facharztausbildung am Zentralinstitut für seelische Gesundheit, Uniklinik Mannheim.

Seit 1986 als niedergelassene Fachärztin in Aschaffenburg tätig. Seit 2006 Gründung des ADHS Zentrums München mit anderen Kollegen, die sich auf dieses Thema spezialisiert haben.

Seit 2007 Zweitpraxis in München und mehr als 15 Jahre Spezialisierung auf das Thema ADHS bei Erwachsenen.


Zahlreiche Veröffentlichungen zu diesem Thema: ADHS- erfolgreiche Strategien für Kinder und Erwachsene, ADHS-Spots, ADHS-Praxishandbuch, ADHS.com für Jugendliche mit ADHS.

Entwicklung von ambulanten Therapieprogrammen.

Mutter von fünf Kindern, von denen drei auch betroffen sind.


Literatur und Quellen:

Ludger Tebartz van Elst, Autismus und ADHS

Kohlhammer, 2016

S. Schneider- Kittel Nervenarzt 7/2020

D. Schöttle 2019, UKE



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