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Autismus – Sichtwechsel: vom Behandeln zum Unterstützen


Georg Theunissen

Ausgehend von den „Erstbeschreibungen“ über Autismus wird zunächst die aktuelle klinische Sicht skizziert, die nicht mehr verschiedene Autismus-Bilder unterscheidet, sondern eine dynamische Betrachtung zugrunde legt. Diese findet gleichfalls bei autistischen Personen Zuspruch, denen es aber nicht um Pathologisierung und Behandlung von Autismus zu tun ist, sondern um Akzeptanz und Unterstützung für ein „Leben mit Autismus“.


Zur Geschichte und Entwicklung von Autismus


Autismus hat es vermutlich zu allen Zeiten gegeben. So wird zum Beispiel diskutiert, ob die naturgetreue, perspektivisch und im Detail imponierende Malerei (36.000 bis 15.000 v. Chr.) in der franz. Grotte von Lascaux von autistischen Personen stammt.

Eine solche Spekulation gilt nicht für mehrere Überlieferungen aus dem 15., 18. und 19. Jahrhundert, in denen Personen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten und eigentümlichen Verhaltensweisen beschrieben werden, die heutzutage als „autistische Savants“ (Autist*innen mit außergewöhnlichen Begabungen) bezeichnet würden (vgl. Theunissen & Sagrauske 2019, 13f.).

Die wohl erste wissenschaftliche Beschreibung und Arbeit über Autismus stammt von der russischen Kinder- und Jugendpsychiaterin Grunja Ssucharewa, die in den 1920 Jahren über Kinder und Jugendliche mit autismustypischen Verhaltens- und Erlebensweisen berichtet. Statt Autismus bevorzugte sie jedoch in Abgrenzung zur Schizophrenie die Bezeichnung „schizoide Psychopathie“ (vgl. Theunissen 2021a, 16).

Ferner stoßen wir auf wissenschaftliche Beiträge über autistische Kinder und Jugendliche durch die Psychologin Anni Weiss (später Frankl) und den Psychiater Georg Frankl, die zunächst in den 1930er Jahren beim Kinder- und Jugendpsychiater Hans Asperger auf der Heilpädagogischen Station der Kinderklinik in Wien und dann von Ende 1937 etwa zwei Jahre lang bei Leo Kanner am Johns Hopkins Hospital in Baltimore (USA) für Zuarbeiten durch Verhaltensbeobachtungen und diagnostische Untersuchungen zuständig waren (vgl. Theunissen 2021c). Bis heute stehen diese Erstbeschreibungen im Schatten der Ausführungen zum „Frühkindlichen Autismus“ durch Kanner sowie zur „autistischen Psychopathie“ durch Asperger.

Inzwischen ist erkannt worden, dass Weiss und Frankl sehr wohl Kanner und Asperger wichtige Anregungen zur Theoriegenerierung von Autismus gegeben hatten. Zudem zeigt die Zusammenschau der Beiträge (vor allem der „Fallbeispiele“) von Ssucharewa, Weiss, Frankl, Kanner und Asperger auf, dass es mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede beim Autismus gibt (vgl. ebd.; auch 2021a).

Eine klare Unterscheidung der Autismus-Bilder war ebenso für die britische Kinderpsychiaterin Lora Wing nicht überzeugend. Ihr Verdienst ist es, die Schriften von Asperger ins Englische übersetzt und der internationalen Fachwelt bekannt gemacht zu haben. Daraufhin wurde ab den 1990er Jahren in den beiden weltweit anerkannten Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-IV neben dem von Kanner abgeleiteten „Frühkindlichen Autismus“ (oft auch als „klassischer Autismus“ bezeichnet) und einer „nicht näher bezeichneten tiefgreifenden Entwicklungsstörung“ das sogenannte „Asperger-Syndrom“ aufgenommen.

Bis zu diesem Zeitpunkt wurde Autismus in erster Linie auf den „Frühkindlichen Autismus“ fokussiert und damit seltener diagnostiziert. Mittlerweile ist jedoch die Zahl an Personen mit einer Autismus-Diagnose stark angestiegen (vgl. Theunissen & Sagrauske 2019, 34). Nach internationalen Studien liegt derzeit die Prävalenz bei mindestens 1%. So wird in Bezug auf Deutschland bei 100 Neugeborenen mit einem autistischen Kind gerechnet.

Die Zunahme an Autismus-Diagnosen hat verschiedene Gründe. Neben dem „Nachholeffekt“ durch vermehrte „Asperger-Diagnosen“, verbesserten und verfeinerten Methoden insbesondere zur Diagnostizierung des Autismus im Erwachsenenalter, spielt die Aufhebung von Fehldiagnosen eine wichtige Rolle. Das betrifft vor allem Personen, denen im frühen Kindesalter zunächst eine „geistige Behinderung“ attestiert wurde. Diesbezüglich wurde in den letzten Jahren zusehends die Gefahr erkannt, autistische Personen, die in ihrer sprachlichen Kommunikation erheblich eingeschränkt sind, in ihrer Intelligenz zu unterschätzen (vgl. Theunissen 2020, 78).

Grundsätzlich gibt es keine enge Verbindung zwischen Autismus und niedriger Intelligenz. Vielmehr reicht die Intelligenzspanne autistischer Menschen von einer schweren kognitiven Beeinträchtigung bis hin zu einer signifikanten Hochbegabung. Nach aktuellen repräsentativen Untersuchungen kann davon ausgegangen werden, dass 40% bis 50% aller autistischen Menschen eine unterdurchschnittliche Intelligenz aufweisen (vgl. Theunissen 2021b).

Was sich im Rahmen der Zunahme an Autismus zu einem schwer zu bewältigenden Problem entwickelte, waren Schwierigkeiten und Unsicherheiten bei der Vergabe einer verlässlichen Autismus-Diagnose. Da wohl nicht wenige autistische Personen im Laufe ihres Lebens wechselnde Autismus-Diagnosen erhielten, wurde in den letzten 15 Jahren die bisherige Einteilung von Autismus in verschiedene Bilder zusehends infrage gestellt. Von hier aus war der Schritt nicht weit, Autismus neu zu fassen.


Zur Neufassung von Autismus nach DSM-5 und ICD-11


Das seit Mai 2013 eingeführte DSM-5 der US-amerikanischen Psychiatriegesellschaft ist ein Beleg dafür. So wurden unter dem Leitbegriff der „Autismus Spektrum Störung“ (ASS) die bisher geläufigen Autismus-Bilder abgeschafft und ihre Charakteristika als Symptombereiche größtenteils unter zwei Kernkriterien zusammengefasst und aufbereitet: (1) „Anhaltende Defizite in der sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion in verschiedenen Kontexten“ und (2) „Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten“. Bemerkenswert ist, dass zum ersten Mal aus klinischer Sicht ein „hyper oder hypo-ausgeprägtes Verhalten im Hinblick auf sensorische Reize“ als Symptombereich von Autismus aufgenommen wurde.

Diese Neuerung im DSM-5 wird von Elternvereinigungen und der Fachwelt im angloamerikanischen Sprachraum (v. a. USA) weithin begrüßt. Zugleich gibt es aber auch Stimmen, die mit Blick auf empirische Studien auf die Gefahr hinweisen, dass Personen mit einer „nicht näher bezeichneten tiefgreifenden Entwicklungsstörung“ oder einem „atypischen Autismus“ durch die DSM-5 Klassifikation ASS unzureichend erfasst würden.

Gleichfalls gilt nach ICD-11 der Weltgesundheitsorganisation, welches ab dem Jahr 2022 gültig sein wird, die bisherige Kategorisierung in unterschiedliche Autismusformen als überholt (dazu Theunissen 2021b). Allerdings sind im ICD-11 – dies im Unterschied zum DSM-5 - unter „Autismus-Spektrum-Störungen“ sechs Kategorisierungskriterien einer möglichen Beeinträchtigung der geistigen sowie der sprachlichen Entwicklung gebildet worden. Ferner wurde an einer unspezifischen, nicht näher bezeichneten ASS festgehalten; unberücksichtigt geblieben sind hingegen die DSM-5 ausgewiesenen sensorischen Besonderheiten als ein Symptombereich von Autismus.

Ebenso sollte die im ICD-11 exponierte Stellung des Intelligenzaspekts im Rahmen von ASS gegenüber dem DSM-5, das durch zusätzliche „clinical specifiers“ keine enge Verschränkung von Autismus und Intelligenz vorsieht, kritisch gesehen werden. Denn eine solche Betonung der geistigen Entwicklung ist zum Beispiel bei psychischen Störungen unüblich. Insofern stellt sich die Frage, wem die Erfassung der Intelligenz nutzt. Welche Konsequenzen ergeben sich, wenn einer autistischen Person eine unterdurchschnittliche Intelligenz attestiert wird? Wieweit werden durch eine diagnostische Zuschreibung oder Annahme einer Intelligenzminderung bei einer betroffenen Person Vorurteile, negative Prognosen und Prozesse sozialer Diskriminierung befördert? Was geschieht, wenn sich eine Person der Intelligenzerfassung verweigert oder wenn keine adäquate, verlässliche Beurteilung möglich ist?

Für die gegenwärtigen Bedingungen in Deutschland ist der Rückgriff auf das ICD-11 zur Diagnostizierung von Autismus verlockend, weil dadurch im Unterschied zum DSM-5 Zuweisungen für Leistungsträger eindeutiger erfolgen können: Liegt Autismus und Intelligenzminderung vor, ist bereits bei Kindern und Jugendlichen der Leistungsträger der Sozialhilfe zuständig; Autismus ohne Intelligenzminderung fällt hingegen bei Kindern- und Jugendlichen in den Zuständigkeitsbereich der Kinder- und Jugendhilfe. Diese Zweiteilung ist jedoch fachwissenschaftlich überholt und sollte ebenso im Sinne der Inklusion überwunden werden.


Zur Sicht autistischer Personen (Innensichtweisen)


Werfen wir einen Blick auf Auffassungen über Autismus, die von betroffenen Personen stammen, lassen sich zunächst einmal Vorbehalte gegenüber dem Oberbegriff der ASS im DSM-5 oder ICD-11 feststellen. So möchten zum Beispiel einige Autist*innen, die sich als Asperger oder hochfunktional bezeichnen, an einer Abgrenzung zum frühkindlichen (klassischen) Autismus festhalten. Denn die Subsumierung ihrer autistischen Merkmale unter dem Etikett einer Störung (ASS) sei gegenüber dem eher neutral anmutenden Asperger-Syndrom ein Rückschritt.

Dass im Unterschied zum Asperger-Syndrom die neue Bezeichnung ASS allzu leicht zu negativen Konnotationen verleitet, ist nicht zu leugnen. Dies wird gleichfalls im Lagerdes Autistic Self-Advocacy Network(ASAN) gesehen, das gegenwärtig die weltweit einflussreichste Selbstvertretungsorganisation bildet (dazu Theunissen 2020; Theunissen & Sagrauske 2019).

Dennoch steht das ASAN Positionen kritisch gegenüber, die an der Abgrenzung zwischen dem „Frühkindlichen Autismus“ und „Asperger-Syndrom“ festhalten. Das ASAN möchte nämlich kein „Elitedenken“ im Kontext von Autismus und hält es für wichtig, alle Menschen im Autismus-Spektrum zu repräsentieren und zu vertreten. Ferner legt es Wert auf die Berücksichtigung der wissenschaftlichen Erkenntnisse, die unter anderem aus dem genauen Studium der Erstbeschreibungen hervorgehen.

Vor diesem Hintergrund wird die Neuerung durch das DSM-5 als ein Weg in die richtige Richtung betrachtet. Neben der Spektrums-Perspektive und Aufnahme von hyper- und hyposensorischem Verhalten werden jedoch auch Schwachpunkte vermerkt, zum Beispiel die unzureichende Berücksichtigung sprachlicher und motorischer Auffälligkeiten sowie die Vernachlässigung der Frage nach geschlechtsspezifischen Besonderheiten.

Außerdem werden die grundsätzliche Defizitorientierung und insbesondere negative, einseitige Sichtweisen in Bezug auf repetitives Verhalten, Interessen und Aktivitäten kritisiert. Hierbei kann es sich nämlich um eine Quelle von Freude und Glück (Flow) oder um ein subjektiv bedeutsames, kompensatorisches Verhalten zur psychischen Beruhigung handeln. Manche Autist*innen betrachten dies als „überlebensnotwendig“ (vgl. Schmidt 2020, 53ff., 60; Vero 2020, 87f., 92). Umso wichtiger ist eine verstehende Sicht dieses Verhaltensbereichs, um die Funktion von repetitivem Verhalten oder eingeschränkten, oft intensiv gepflegten Interessen zu erfassen.

Zu einer einseitigen Betrachtung verleitet darüber hinaus der Symptombereich „Defizite in der sozial-emotionalen Wechselseitigkeit”. Der autistische Aktivist und Gelehrte Damian Milton (zit. in Theunissen 2020, 12) sieht hier ein „doppeltes Empathie-Problem“, indem er darauf verweist, dass es nicht-autistischen Personen oft schwerfällt, sich in das Denken und Handeln von Autist*innen hineinzuversetzen und die Bedeutung ihres Verhaltens nachzuvollziehen. Leid entsteht oftmals erst dadurch, dass autistische Personen nicht verstanden werden und dass gegenüber ihrem Verhalten und ihren Sichtweisen Unverständnis zum Ausdruck gebracht wird.

Das zeigt sich nicht nur bei der Empathie, sondern ebenso bei sozialen Interaktionen. Auch diesbezüglich wird ein „doppeltes Problem“ gesehen (vgl. Sasson et al. 2016). Daher sollten nicht nur autistischen Menschen Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion attestiert werden. Zudem zeigen viele autistische Personen im Zusammensein mit anderen Autist*innen ein hohes Maß an sozialer Interaktion und Kommunikation.

Außerdem gibt es Autist*innen, die anderen Menschen vorurteilsfrei begegnen und soziale Interaktionen sensibel erfassen können. So berichtet zum Beispiel die Autistin Gabriele Schmitt-Lemberger (2020, 34) über ihren nicht-sprechenden, schwer autistischen Sohn, dass er ein feines Gespür dafür hat, wenn etwas beim Anderen nicht stimmt. Für die Autistin Gee Vero (2020, 26) nutzen autistische Menschen hierbei „eine Art Wunderwerkzeug, nämlich das Sensing“. Dies ist eine „allen Menschen angeborene Fähigkeit (…), eine Art des Spürens, also des Erfühlens der inneren Zustände eines anderen Menschen“ (ebd.).

Alles in allem stellt Autismus aus der Betroffenen-Sicht weder eine psychische Krankheit noch per se eine tiefgreifende (Entwicklungs-)Störung dar. Vielmehr gilt Autismus als Ausdruck menschlichen Seins. Diesbezüglich beruft sich das ASAN auf die Neurodiversitätshypothese, nach der es verschiedene Möglichkeiten einer neuronalen Hirnvernetzung und –entwicklung gibt, die es (wie Homosexualität oder Linkshändigkeit) als Ausdruck „personaler Identität“ ethisch anzuerkennen gilt (Baron-Cohen 2017, 456; Theunissen 2020, 55). Diese These wird von einigen weltweit renommierten Autismusforscher*innen (z. B. Laurent Mottron und Team) gestützt. Sie gehen davon aus, dass die Wahrnehmung autistischer Menschen im Unterschied zu nicht-autistischen Personen von Natur aus eher auf die Erfassung von lokalen Reizen (Details) ausgerichtet ist, sich in Form eines „Bottom-up-Prozesses“ vollzieht (d. h. von Details zum Ganzen) und weniger von Verarbeitungsprozessen höherer Ordnung (von Oberbegriffen oder Verallgemeinerungen) beeinflusst wird (vgl. Mottron 2015; Theunissen 2020, 75ff.).

Daher werden neben der Pathologisierung Bezeichnungen wie ASS oder „Mensch mit Autismus“ abgelehnt. Bevorzugt werden der neutrale Begriff des Autismus-Spektrums und Bezeichnungen wie Menschen aus dem Autismus-Spektrum, Autist*innen oder autistische Personen. Manche der international führenden Autismusforscher*innen (z. B. Simon Baron-Cohen) haben auf diese Kritik reagiert, indem sie mittlerweile von autism spectrum condition sprechen. Damit sollen negative Zuschreibungen vermieden und neben Schwierigkeiten auch besondere Stärken und Fähigkeiten berücksichtigt werden.

Von hieraus lässt sich eine Brücke zu den Erstbeschreibungen schlagen, aus denen bereits Stärken, außergewöhnliche Fähigkeiten, atypische Lern- und Problemlösungsprozesse sowie autistische Denkweisen hervorgehen. Insofern besteht Autismus nicht nur aus Defiziten, Schwächen oder Fehlverhaltensweisen, was H. Asperger (1944, 135) zu seiner weitsichtigen Aussage geführt hat, „dass in jedem Charakter Vorzüge und Mängel Ausfluß derselben Wesenszüge sind, daß Positives und Negatives zwei Seiten sind, die man nicht ohne weiteres voneinander trennen kann.“


Diese Erkenntnis hat ebenso wie die These der „neuronalen Variation“ im Autismus-Konzept von ASAN Eingang gefunden, das sieben Merkmale aufgreift, die für Autismus charakteristisch sind (vgl. Theunissen 2020, 25ff.):


(1) unterschiedliche sensorische Erfahrungen

(2) unübliches Lernverhalten und Problemlösungsverhalten

(3) fokussiertes Denken und Spezialinteressen

(4) atypische, manchmal repetitive Bewegungsmuster

(5) Bedürfnis für Beständigkeit, Routine und Ordnung

(6) Schwierigkeiten, Sprache zu verstehen und sich sprachlich auszudrücken, so wie es üblicherweise in Kommunikationssituationen (Gesprächen) erwartet wird

(7) Schwierigkeiten, typische soziale Interaktionen zu verstehen und mit anderen Personen zu interagieren.


Darüber hinaus wurde von uns mit Blick auf die Erstbeschreibungen und auf autobiografische Berichte autistischer Personen mit „emotionalen Besonderheiten“ noch ein achter Aspekt herausgestellt und in Verbindung mit den anderen sieben Merkmalen konzeptionell unter einer verstehenden Sicht aufbereitet (vgl. Theunissen 2021a; Theunissen & Sagrauske 2019).

Alle acht Merkmale des Autismus-Konzepts sind individuell zu erschließen und können bei jeder autistischen Person in unterschiedlich ausgeprägter Form in Erscheinung treten. Bei nur leichten Ausprägungen haben wir es mit fließenden Übergängen und Abgrenzungsschwierigkeiten zur Normalität zu tun. Werden die meisten Merkmale beobachtet, sollte hingegen der Autismus unstrittig sein. Da das Konzept des Autismus-Spektrums nur qualitativ, nicht aber quantitativ empirisch erschlossen wurde, hat es eine eher heuristische (entdeckende) Bedeutung.


Folgerungen für die Praxis


Die vorausgegangenen Ausführungen signalisieren eine Entwicklung, die nicht nur ein neues Verständnis über Autismus, sondern ebenso einen Sichtwechsel für die Praxis auf den Weg gebracht hat.

Betrachten wir den bisher klinisch ausgerichteten Umgang mit Autismus, ist unschwer zu erkennen, dass die Arbeit an Defiziten und vermeintlichen Fehlverhaltensweisen im Vordergrund steht, um eine möglichst „normale“ (unauffällige) Entwicklung einer autistischen Person so früh wie möglich zu erreichen.

Prominente Bedeutung kommt hierbei seit den 1970er Jahren Methoden einer intensiven Verhaltenstherapie zu, die mit dem sogenannten diskreten Lernformat(discrete trail training [DTT]) oder mit anderen restriktiven (zum Teil bestrafenden) Interventionstechniken häufig als ABA bezeichnet werden. Diese Gepflogenheit hat Verwirrung gestiftet, da ABA ursprünglich abgeleitet von „applied behavior analysis“ (angewandte Verhaltensanalyse) einen Oberbegriff kennzeichnet, unter dem zahlreiche, teilweise unterschiedliche behaviorale (verhaltensorientierte) Interventionen subsumiert werden, die auf der Grundlage der Erfassung und Analyse von auffälligen Verhaltensweisen, auslösenden Bedingungen und Konsequenzen entwickelt wurden. Folglich ist die Intensivtherapie mit ihren restriktiven Methoden (DTT) nur eine Form von ABA und nicht mit ihr synonym.

Untersuchungen zufolge können die restriktiven ABA-Methoden zumeist nur bei leicht intellektuell beeinträchtigten und autistischen Kindern zu signifikanten Lernfortschritten und einem Anpassungsverhalten führen. Begleiterscheinungen wie Stress, Ängste, ADHS, Tics oder Depressionen werden hingegen ebenso wie schwerwiegende (zusätzliche) herausfordernde Verhaltensweisen durch diese Behandlungsform nicht erreicht (vgl. Theunissen & Sagrauske 2019, 97).

Die unbefriedigenden Befunde haben seit etwa 15 Jahren dazu geführt, im Rahmen der Frühen Hilfen breiter angelegte therapeutische Präventions- und Interventionskonzepte (z. B. das Early Start Denver Model) zu nutzen, in denen ein sozial kommunikativer Zugang zu einem autistischen Kind in „natürlichen Spielsituationen“ aufgesucht wird und operante ABA-Methoden zur Anbahnung wünschenswerter Verhaltensweisen (z. B. soziale Zuwendung, Blickkontakt, Aufmerksamkeit, positives Sozialverhalten, sprachliche Äußerungen) eingearbeitet wurden (vgl. ebd., 99ff.). Wenngleich diese Ansätze gleichfalls wie Alternativen durch Strukturierungshilfen zur Verhaltensorientierung (TEACCH) der restriktiven ABA-Praxis überlegen sind, stehen sie an der Stelle in der Kritik, wo sie zum Beispiel Wahrnehmungsbesonderheiten, interessenbezogene Entfaltungsmöglichkeiten sowie atypische Lern- und Entwicklungsbesonderheiten übergehen und auf ein „Normal-Machen“ durch einseitige soziale Anpassungsziele hinauslaufen.

Solche Schwächen zu überwinden verspricht eine Unterstützungsperspektive, die das autistische Sein respektiert, sich der These der neuronalen Vielfalt, der erweiterten wahrnehmungsbezogenen Funktionalität sowie den autismusspezifischen Entwicklungsbesonderheiten verschrieben hat.

Außerdem wird Autismus als Behinderung betrachtet: „Die Sprache der Behinderung unterscheidet sich erheblich von der Sprache der Störung. Behinderung erfordert gesellschaftliche Unterstützung, Akzeptanz von Differenz und Vielfalt, und gesellschaftliche ‚angemessene Anpassung‘, während eine Störung normalerweise eine Heilung oder Behandlung verlangt. (…). Darüber hinaus sind die Konzepte von Behinderung und Neurodiversität nicht unvereinbar, während Konzepte von Störung und Neurodiversität unvereinbar sind“ (Baron-Cohen 2017, 745f.).

Alles in allem geht es um ein „Leben mit Autismus“. Hierzu werden nicht nur eine verstehende Sicht, unterstützende Kommunikationsmittel und –formen sowie assistierende Hilfen im Hinblick auf Lernen und Lebensbewältigung, sondern gleichfalls drei inklusionsrelevante Ziele fokussiert: (1) die Überwindung der Stigmatisierung und Diskriminierung autistischer Menschen und ihrer Familien, (2) die Unterstützung autistischer Personen in ihrem Leben, so dass Würde und Selbstbestimmung gewahrt bleiben und (3) die Ermöglichung hoher Lebensqualität durch sinnvolle Beziehungen, Bildung, Beschäftigung und ein Leben im Gemeinwesen, anstatt den Fokus auf die Behandlung von Autismus zu legen (n. Steven Kapp [ASAN] zit. in Theunissen & Sagrauske 2019, 123).

Gleichwohl schließt die Unterstützungsperspektive spezielle therapeutische Angebote nicht prinzipiell aus, wenn autistische Personen Wert darauf legen oder wenn es um psychische Begleitstörungen (z. B. Depressionen, Angst-, Zwangs-, Ess- oder Schlafstörungen, Epilepsie, Persönlichkeitsstörungen, Traumata) geht.


Über den Autor: Prof. Dr. Georg Theunissen Dipl.-Päd., Heil- u. Sonderpädagoge Ordinarius für Geistigbehindertenpädagogik (1994– 2019) und Pädagogik bei Autismus (2012–2019) an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (i. R.). Gründer des 1. Lehrstuhls für Pädagogik bei Autismus im deutschsprachigen Raum.


Literatur:

Asperger, H. (1944): Die „autistischen Psychopathen“ im Kindesalter, in: Archiv für Psychiatrische Nervenkrankheiten, 117, 76–136

Baron-Cohen, S. (2017): Editorial perspective: Neurodiversity — a revolutionary concept for autism and psychiatry, in: Journal Child Psychol Psychiatry, Vol. 58, 744–747

Mottron, L. (2015): Enhanced Perceptual Functioning, in: Theunissen, G. u. a. (Hrsg.): Handlexikon Autismus-Spektrum, Stuttgart, 119-123

Sasson, N. et al. (2016): Neurotypical Peers are Less Willing to Interact with Those with Autism based on Thin Slice Judgments, Scientific Reports 7:40700, online: DOI: 10.1038/srep40700 (Zugriff: 20.4.2019)

Schmidt, P. (2020): Aus dem Rahmen gefallen. Praktische Autismuskunde von einem, der es wissen muss, Ostfildern

Schmitt-Lemberger, G. (2020): Das Leben, Autismus und die Villa Kunterbunt, Gera

Silberman, S. (2016): Geniale Störung, Köln

Theunissen, G. (2021c): Autismus vor Kanner und Asperger – Geschichtliche Erkenntnisse, in: Autismus Nr. 91, Juni (hrsg. V. Bundesverband)

Vero, G. (2020): Das andere Kind in der Schule. Autismus im Klassenzimmer, Stuttgart


Anmerkung:

Der Artikel von Professor Dr. Theunissen ist erstmalig in der Ausgabe 03 der Fachzeitschrift heilpädagogik.de des BHP Berufs- und Fachverband Heilpädagogik e.V. Ende Juli 2021 erschienen. Vielen Dank für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung durch die BHP Bundesgeschäftsstelle.


AutismusSpektrum.info

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