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Wenn Struktur und Grenzen schaden: Das PDA-Profil in der Autismus-Spektrum-Störung


Sarah Weber, AutisPlus
Sarah Weber

Der Autismus-Verband Deutschland definiert die Autismus-Spektrum-Störung als „Störungen der Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung, die sich auf die Entwicklung der sozialen Interaktion, der Kommunikation und des Verhaltensrepertoires auswirken“ (Autismus Deutschland e.V., 2022). Zumeist benötigen Menschen mit dieser Diagnose viel Struktur und vorhersehbare Rahmenbedingungen, um die Vielzahl an Reizen und Umweltinformationen ordnen und angemessen verarbeiten zu können. Hierfür werden nicht selten umfangreiche Tages- und Aufgabenpläne, zahlreiche Routinen und Rituale sowie klar verbalisierte Regeln und Abläufe erstellt und nachhaltig implementiert. So wird das Sinneschaos begreiflicher, weniger ängstigend und damit auch kontrollierbarer. Der Wunsch nach Struktur und Ordnung findet in den meisten gängigen Interventionen zur Förderung sozialer, kommunikativer und lebenspraktischer Fähigkeiten Eingang. So arbeitet z.B. der TEACCH-Ansatz primär mit dem Prinzip, innere und äußere Abläufe visuell, zeitlich und räumlich so zu strukturieren, dass diese immer gleichbleibend und vorhersehbar ablaufen. Das Herstellen von solchen Regularien und Routinen gilt als eine der eindeutigsten und wirksamsten Methoden, um die Symptome der Autismus-Spektrum-Störung für den betroffenen Menschen angenehmer zu gestalten.


Doch nicht selten stoßen wir bei der Umsetzung dieses scheinbar universellen Prinzips an Grenzen. Wir begegnen Kindern, die sich jeglicher Anforderung im Alltag verweigern. Bei denen auch die größte Vorhersehbarkeit, das am besten eingeübte Ritual oder die einfühlsam formulierteste Bitte zu emotionalen Ausbrüchen führt, die für das Umfeld nur schwer begreiflich sind. Es sind Kinder, bei denen die Erfüllung alltäglicher Anforderungen solch einen Druck auslöst, dass Routinen und klare Ablaufpläne sie emotional eher überfordern als unterstützen – autistische Kinder mit einem PDA-Profil.


„Pathological Demand Avoidance“


Abbildung 1: Woods Interpretation des PDA-Profils, basierend auf Garralda, 2003; Green et al, 2018; O’Nions et al, 2014b; Woods, 2019

Eines der Kernmerkmale für die Diagnose[1] stellt das zwanghafte Wehren gegen Anforderungen des Alltags dar, wobei nicht die Tätigkeit selbst diese Ablehnung hervorruft, sondern vielmehr die Tatsache, dass ihre Ausführung von einer anderen Person bzw. der Gesellschaft eingefordert wird. Auch der eigene Wunsch, eine Handlung umzusetzen und der damit einhergehende Druck, wenn dies nicht gelingt, können Ursache der zwanghaften Anforderungsvermeidung darstellen. Des Weiteren werden häufig, entgegen den typischen Assoziationen der ASS, soziale Strategien genutzt, um eben jenen alltäglichen Anforderungen aus dem Weg zu gehen. Die Kinder zeigen hierbei ein hohes Maß an sozialer Geschicklichkeit und Manipulation. Entsprechend sind ihre Spezialinteressen oft eher sozialer Natur, weshalb sie zusätzlich weniger auffallen.


Dieses „Maskieren“ im Alltag erschwert oft die allgemeine Diagnosestellung einer ASS, weshalb die Kinder häufig unerkannt bleiben. Wird ein Kind mit PDA-Profil zur Ausführung einer bestimmten Anforderung gezwungen, endet dies nicht selten in Meltdowns, emotionalen Ausbrüchen und heftigen psychischen sowie körperlichen Abwehrreaktionen.

So hilft ihnen im Schulalltag beispielsweise weniger die Routine oder Struktur, als vielmehr ein gewisses Maß an Flexibilität, Spontanität und Humor. Kinder und Jugendliche mit PDA-Profil erfüllen zwar die Kriterien für eine Autismus-Spektrum-Störung, zeigen jedoch zum Teil sehr untypische Verhaltensweisen und einen hohen Grad an Maskierungskompetenz, sodass soziale Unzulänglichkeiten nicht selten kaum auffallen. Nach außen wirken sie oft gesellig, benötigen jedoch ein hohes Maß an Kontrolle über ihr soziales Umfeld, um sich im gemeinsamen Spiel einbringen zu können. Zudem leiden sie unter starken, plötzlich auftretenden Stimmungsschwankungen und zwanghaftem Verhalten gegenüber Menschen ihres sozialen Umfelds.


Nicht selten werden Kinder mit PDA-Profil aufgrund ihrer vergleichsweise hohen Sozialkompetenz und der starken Anforderungsvermeidung deshalb als unerzogen, frech oder schlicht aufmüpfig wahrgenommen, was insbesondere für die Eltern der betroffenen Kinder eine hohe Belastung darstellt. Nicht selten wird auch falscherweise die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens gestellt. Bei bereits gestellter ASS Diagnose und Versagen der typischen ASS Strategien fragen sich die Eltern andererseits oft, was sie falsch machen, wieso die typischen Strategien für Kindern im Spektrum bei ihrem Kind keinen oder sogar einen gegenteiligen Effekt zeigen und ob sie sich das vielleicht alles nur einbilden und schlicht nicht streng genug sind. Zusätzlich zu dieser elterlichen Belastung leiden natürlich auch die Kinder selbst unter ihrer PDA – denn sie vermeiden Anforderungen nicht, weil sie das wollen, sondern weil sie nicht anders können. Das Bewusstsein über diese wichtige Unterscheidung kann bereits einen großen Unterschied für den Umgang von Kindern mit PDA-Profil machen.


Zusammengefasst beinhaltet das PDA-Profil folgende Kernsymptome:


Abbildung 2: Blog "Welt aus Bausteinen", 2022

Zur Unterstützung von Kindern im Spektrum mit PDA-Profil hat die PDA-Society außerdem das PANDA-Vorgehen entwickelt:


Abbildung 3: PANDA-Vorgehen der PDA-Society (2022)

Eltern und Fachkräfte, die mit Kindern im PDA-Spektrum arbeiten, sollten daher versuchen, sich auf einzelne Anforderungen, die es zu implementieren gilt, zu konzentrieren und nicht mehrere auf einmal auszuwählen. Zugleich müssen die enormen Ängste vor Kontrollverlust und Zwang kontrolliert werden, angemessene Verhandlung und Zusammenarbeit angeboten und unnötige Anforderungen vermieden werden. Schließlich sollte das Umfeld, wenn möglich, Adaptionen hinsichtlich der Alltagsanforderungen vornehmen, sodass diese sich sukzessive reduzieren und damit weniger Stress hervorrufen. Denn je weniger Stress und Druck ein Kind im PDA-Spektrum verspürt, desto eher ist es bereit, sich auf externe Anforderungen einzulassen.

In jedem Fall kommt dem PDA-Profil der Autismus-Spektrum-Störung, insbesondere im deutschsprachigen Raum, bisher deutlich zu wenig Aufmerksamkeit zu. Es bedarf an weiterer Forschung, Aufklärung und Information für Eltern und Fachkräfte, um das PDA-Profil bekannter zu machen und seine gesellschaftliche und soziale Akzeptanz zu erhöhen.


[1] PDA stellt bisher keine eigenständige Diagnose dar. Forschungsarbeiten aus den letzten Jahren zeigen doch signifikante Unterschiede in der Diagnostik zu Kindern im Autismus-Spektrum und erwägen aus diesem Grund perspektivisch eine eigenständige Diagnostik (z.B. Eaton & Weaver, 2020). Bisher gibt es im Bereich der PDA-Einschätzung lediglich den EDA-Q (Extreme Demand Avoidance Questionnaire) der 2013 von O´Nions entwickelt wurde, jedoch kein diagnostisches Verfahren darstellt.


Sarah Weber ist studierte Sonderpädagogin, Fachkraft für Unterstützte Kommunikation und Promovendin an der LMU München. Sie arbeitet außerdem auf selbstständiger Basis in einem Autismus-Kompetenzzentrum, leitet ein Projekt für Erwachsene mit komplexer Behinderung und hat einige Lehraufträge im Bereich der Sonderpädagogik inne. Mit ihrem Kleinunternehmen "AutisPlus" hat sie sich auf Kinder im Spektrum mit zusätzlichen Beeinträchtigungen spezialisiert und bietet hier Beratungen und Schulungen für Eltern und Fachkräfte an. Gemeinsam mit einigen Kolleg*innen engagiert sie sich für die Anerkennung der PDA im deutschsprachigen Raum.


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Quellen

Eaton, J., & Weaver, K. (2020). An exploration of the pathological (or extreme) demand avoidant profile in children referred for an autism diagnostic assessment using data from ADOS-2 assessments and their developmental histories. Good Autism Practice (GAP), 21(2), 33-51.

Garralda, E. (2003). Pathological demand avoidance syndrome or psychiatric disorder? Archives of Disease in Childhood (online only article). Retrieved from: https://adc.bmj.com/content/88/7/595.responses (Zuletzt aufgerufen am 23.10.2022)

Green, J., Absoud, M., Grahame, V., Malik, O., Simonoff, E., Le Couteur, A., & Baird, G. (2018). Pathological Demand Avoidance: symptoms but not a syndrome. Lancet Child & Adolescent Health, 2(6), 455–464.

O’Nions, E., Viding, E., Greven, C., Ronald, A., & Happé, F., (2014). Pathological demand avoidance: Exploring the behavioural profile. Autism, 18(5), 538-544.

Welt aus Bausteinen (2022). Blog. Meine Welt aus Bausteinen | Eltern, Kinder, Autismus und jede Menge Liebe, Geduld und Humor (zuletzt aufgerufen am 24.10.2022)

Woods, R. (2019). Demand avoidance phenomena: circularity, integrity and validity – A commentary on the 2018 National Autistic Society PDA Conference. Good Autism Practice, 20(2), 28–40.


Weiterführende Literatur

Christie, P. (2007). The distinctive clinical and educational needs of children with pathological demand avoidance syndrome: guidelines for good practice. Good Autism Practice, 8(1), 3–11.

Eaton, J. (2017). A guide to mental health issues in girls and young women on the autism spectrum: diagnosis, intervention and family support. London: Jessica Kingsley Publishers.

Eaton, J., Duncan, K., & Hesketh, E. (2018). Modification of the Coventry Grid Interview (Flackhill et al, 2017) to include the Pathological Demand Avoidant profile. Good Autism Practice, 19(2), 12-24.

Egan, V., Bull, E., & Trundle, G. (2020). Individual differences, ADHD, adult pathological demand avoidance, and delinquency. Research in Developmental Disabilities.

Evers, K., Maljaars, J., Carrington, S., Carter, A., Happé, F., Steyaert, J.,… Noens, I. (2021). How well are DSM‑5 diagnostic criteria for ASD represented in standardized diagnostic instruments? European Child & Adolescent Psychiatry, 30(2021), 75-87.

Gillberg, C. (2014). Commentary: PDA – public display of affection or pathological demand avoidance? – reflections on O’Nions et al. (2014). Journal of Child Psychology and Psychiatry, 55: 769–770.

Malik, O., & Baird, G. (2018). Commentary: PDA – what’s in a name? Dimensions of difficulty in children reported to have an ASD and features of extreme/pathological demand avoidance: a commentary on O’Nions et al. (2018). Child and Adolescent Mental Health, 23(4), 387–388.

Milton, D. (2017). A Mismatch of Salience: Explorations of the nature of autism from theory to practice. Hove, UK: Pavilion Publishing and Media Limited.

Newson, E. (1983). Pathological Demand-Avoidance Syndrome. Communication, 17, 3-8.

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O’Nions, E., Christie, P., Gould, J., Viding, E., & Happé, F. (2014). Development of the ‘Extreme Demand Avoidance Questionnaire’ (EDA-Q): preliminary observations on a trait measure for Pathological Demand Avoidance. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 55(7), 758–768.

O’Nions, E., Gould, J., Christie, P., Gillberg, C., Viding, E., & Happé, F. (2016). Identifying features of ‘pathological demand avoidance’ using the Diagnostic Interview for Social and Communication Disorders (DISCO). European Child & Adolescent Psychiatry, 25(4), 407–419.

O’Nions, E., Viding, E., Floyd, C., Quinlan, E., Pidgeon, C., Gould, J., & Happé, F. (2018). Dimensions of difficulty in children reported to have an autism spectrum diagnosis and features of extreme/‘pathological’ demand avoidance. Child and Adolescent Mental Health, 23(3), 220–227.

O’Nions, E., Ceulemans, E., Happé, F., Benson, P., Evers, K., & Neons, I. (2020). Parenting Strategies Used by Parents of Children with ASD: Differential Links with Child Problem Behaviour. Journal of Autism and Developmental Disorders, 50(2), 386-401.

O’Nions, E., & Eaton, J. (2021). Extreme/‘pathological’ demand avoidance: an overview. Paediatrics and Child Health, 30(12), 411-415.

Reilly, C., Atkinson, P., Menlove, L., Gillberg, C., O’Nions, E., Happé, F., & Neville, B. (2014). Pathological Demand Avoidance in a population-based cohort of children with epilepsy: Four case studies. Research in Developmental Disabilities, 35: 3236–3244.

Russell, S. (2018). Being Misunderstood: Experiences of the Pathological Demand Avoidance Profile of ASD (Online Report). Retrieved from: https://www.pdasociety.org.uk/resources/2018-summary/ (Zuletzt aufgerufen am 23.10.2022)

Soppitt, R. (2021). Pathological/ Extreme Demand Avoidance (PDA/ EDA). In: Peer, L., & Reid, G (Eds.), Special Educational Needs: A Guide for Inclusive Practice (pp. 296-314). London, Sage Publications Limited.

Woods, R. (2020). Pathological Demand Avoidance and the DSM-5: a rebuttal to Judy Eaton’s response. Good Autism Practice, 21(2), 74-76.


Hilfreiche Quellen und Informationen zur PDA

AutismusSpektrum.info

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