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Welche Ziele verfolgt die Psychotherapie bei hochfunktionalen Autismus-Spektrum-Störungen?


Andreas Riedel
PD Dr. med. Dr. phil. Andreas Riedel

Das Thema Autismus hat – medial betrachtet – enorm an Fahrt aufgenommen: Jedes Jahr gibt es mehr Dokumentationen, Bücher und Filme zum Thema, und Fernsehserien und Kinofilme „schmücken“ sich immer häufiger mit „Quotenautisten“, manchmal mit dem Label „Autismus“, manchmal auch ohne.

Während sich mit der beschriebenen medialen „Autismuswelle“ auch die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus stetig verbessert hat, hat sich in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung erwachsener Autisten erstaunlich wenig bewegt. Noch immer stehen erwachsene Autisten vor dem Problem, dass sich im psychiatrisch-psychotherapeutischen Bereich kaum jemand für sie zuständig fühlt. Und dabei zeigt sich – auch in vielen empirischen Studien – deutlich, dass Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) noch im Erwachsenenalter zu erheblichen Anpassungsproblemen, deutlichem Leidensdruck und einem hohen Prozentsatz an psychiatrischen Komorbiditäten führen können.


In zahlreichen Studien findet sich das Bild von oft gut ausgebildeten, aber aus dem ersten Arbeitsmarkt exkludierten (arbeitslosen, berenteten oder dauerarbeitsunfähigen) Erwachsenen [1,2,3]. Insbesondere sekundäre depressive Störungen (bis zu 50% der Betroffenen [2,4]) können als Hinweis auf eine mangelnde Versorgung von Erwachsenen mit ASS gewertet werden. Schon für eine qualifizierte Autismusdiagnostik im Erwachsenenalter müssen Wartezeiten von vielen Monaten in Kauf genommen werden. Auch einen Psychotherapieplatz bei einer Fachperson zu finden, die sich mit Autismus zumindest ein bisschen auskennt, ist für Erwachsene mit ASS nach wie vor ausgesprochen schwierig. Im Bereich Psychotherapie bestehen noch immer deutliche Berührungsängste mit dem Thema Autismus. Dabei reicht die Spanne von fachlicher Unsicherheit („ich traue mir das nicht zu…“) über Fatalismus („da kann man doch nichts machen…“) und moralischer Ablehnung („das ist eine reine Modeerscheinung…“) bis hin zum Neglect („hochfunktionaler Autismus existiert nicht…“). Die wenigen Psychiater und Psychotherapeuten, die sich eine gewisse Kenntnis des Störungsbildes auf die Fahnen geschrieben haben, sind aus diesen Gründen oft überlaufen. Dabei ist Psychotherapie mit erwachsenen Autisten gewiss kein Hexenwerk, und die Berührungsängste sind aus unserer Sicht unbegründet. Die psychotherapeutische Arbeit mit Erwachsenen aus dem Autismusspektrum ist interessant, bereichernd und macht häufig Freude. Wer als Psychotherapeut gerne Klartext redet (und hört) und loyale, ehrliche und humorvolle Klienten zu schätzen weiß, ist bei erwachsenen Autisten oft am richtigen Platz.


Der vorliegende Artikel soll nun beleuchten, welche Ziele in einer Einzelpsychotherapie mit autistischen Erwachsenen sinnvoller Weise verfolgt werden können und welche therapeutische Haltung aus unserer Sicht dabei hilfreich ist. Freilich wird nicht der Anspruch erhoben, einen vollständigen Überblick über die Thematik zu geben. Da es kaum empirische Studien zum Thema gibt, beziehen wir uns hauptsächlich auf klinische Erfahrungen, die natürlich von einer subjektiven Färbung niemals frei sind.


Drei Klärungen


Klärungsbedürftig ist der – umstrittene und hier verwendete – Begriff des »hochfunktionalen Autismus«: Historisch bezog er sich nur auf Menschen mit frühkindlichem Autismus mit hoher Intelligenz und Sprachfähigkeit und war in der Abgrenzung zu Patienten von Bedeutung, die beispielsweise nicht sprechen. Im vorliegenden Text wird er weiter gefasst und bezeichnet keine genau abgegrenzte Kategorie. Gemeint sind Autisten (jedweden Untertyps) von mindestens mittlerer Intelligenz, guten Sprachfähigkeiten und mit hoher Anpassungsfähigkeit. Dabei ist den Autoren bewusst, dass der Begriff umstritten ist und sich im Umbruch befindet [5]. Seine Implikation, dass es damit einen „niedrigfunktionalen Autismus“ geben muss, der dadurch eine Abwertung erfahren kann, sehen wir durchaus als problematisch an. In Ermangelung einer passenderen Bezeichnung für diesen „Teil des Spektrums“ haben wir den Terminus einstweilen beibehalten.


Manuela Rost
Dr. med. Manuela Rost

Es erscheint uns auch sinnvoll, hier kurz zu umreißen, was wir im vorliegenden Artikel unter dem Begriff »Theory of Mind« verstehen. Die wahrscheinlich bekannteste Hypothese zu dem, was Autismus im Innersten sei, ist die Hypothese der fehlenden oder reduzierten »Theory of Mind« oder »Mentalisierungsfähigkeit«. Mit diesen Ausdrücken ist die Fähigkeit von Menschen (und manchen Tieren) gemeint, sich ein Bild davon zu machen, in welchem inneren Zustand sich das jeweilige Gegenüber befindet. Zu diesem inneren Zustand gehören die Gefühle der Person ebenso wie ihre Bedürfnisse, Intentionen und Gedanken. Auch das Vorwissen, das wir beim Gegenüber annehmen, spielt eine große Rolle. Letztlich ist es sehr erstaunlich, dass neurotypische Kinder schon sehr früh ein inneres Modell davon haben, wer was schon weiß: So wissen sie, wem welche dritte Person schon bekannt ist und wem sie erklären müssen, wer das ist [6]. Dieses Modell entsteht bei Menschen mit ASS sehr viel später [7]: Autistische Kinder fangen häufig »bei Adam und Eva« an zu erklären oder setzen Vorwissen voraus, das ihr Gegenüber gar nicht haben kann. Häufig ist auch die Mentalisierung dessen, was den anderen interessieren oder auch langweilen könnte, reduziert.

In der Fähigkeit zur Theory-of-Mind-Bildung ist auch die Eigenschaft impliziert, »Dinge« mit und ohne innere Zustände intuitiv zu unterscheiden [6]. Da die Fähigkeit zum synthymen Mitfühlen bei vielen Menschen mit ASS deutlich besser ausgeprägt ist als die Fähigkeit zur sachlichen Erfassung innerer Zustände [8], sollte aus unserer Sicht nicht von einem „Empathiedefizit“ gesprochen werden. Wichtig zu betonen ist, dass ein Theory-of-Mind-Defizit bei ASS nicht bedeutet, dass die Betroffenen nicht darüber nachdenken könnten, was im Gegenüber vorgeht; dazu sind hochfunktionale Erwachsene mit ASS durchaus in der Lage. Vielmehr »springt« bei ihnen die Mentalisierung weniger automatisch »an«. Manche scheinen sich immer wieder daran erinnern zu müssen, auf den inneren Zustand des Gegenübers zu achten. Bemerkenswert ist auch, dass Mentalisierungsprozesse bei neurotypischen Erwachsenen nicht nur automatisch anspringen, sondern auch wie nebenbei in der Kommunikation mitlaufen. Autistische Erwachsene müssen eher absichtlich und seriell mentalisieren und sind nicht in der Lage, sich dann gleichzeitig dem Gesprächsinhalt zuzuwenden. Das Defizit der Theory-of-Mind ist als Paradigma sehr gut dafür geeignet, Menschen mit Autismus für andere Menschen verstehbarer und ihre sozialen »Fehlleistungen« nachvollziehbarer zu machen [9]. Dementsprechend nimmt das Thema auch in Psychotherapien einen nicht unerheblichen Raum ein.


Dimensionales Krankheitsmodell: Die Autoren dieses Beitrags gehen davon aus, dass nicht nur die Übergänge zwischen den verschiedenen Formen von Autismus und die Übergänge zu anderen neuronalen und mentalen Entwicklungsstörungen fließend sind (wie im DSM-5 und in der ICD-11 als Konsens angenommen), sondern auch die Übergänge von ASS zur „Normalität“. Wir betrachten das Merkmal „Autistische Eigenschaften“ dimensional, d.h. analog zum Merkmal „Körpergröße“ und nicht kategorial wie das Merkmal „Schwangerschaft“ (vgl. dazu auch [10]). Aus dem dimensionalen Modell von Autismus ergibt sich, dass es keine naturgegebene oder „wahre“ Grenze zwischen autistischen Zügen als Normvariante und ASS als Diagnose gibt und der Übergang zwischen Diagnose und „Normalität“ fließend ist. Eine weitere Folgerung, die sich aus dieser Hypothese ableitet und die für psychotherapeutisch Tätige von großer Bedeutung ist, ist das Wissen darum, dass es neben dem engeren Autismusspektrum (i.S. einer diagnostizierbaren psychiatrischen „Störung“) ein weiteres Spektrum autistischer Eigenschaften gibt, dass sozusagen den Grenzbereich zwischen Autismus und „Normalität“ abbildet („Broader Autistic Phenotype“ im Englischen [11]). Auf einer Gaußkurve autistischer Eigenschaftsausprägung lägen diese Personen vielleicht zwischen der 97. Und 99. Perzentile. Diese Menschen erfüllen die Diagnosekriterien einer ASS im engeren Sinne meist nicht, können sich aber oft besser selbst verstehen, wenn sie ihre autistischen Eigenschaften ernst nehmen. In der Psychotherapie kann das Einbeziehen dieser „autistischen Basisstruktur“ [12] auch dann fruchtbar sein, wenn die Diagnosekriterien einer ASS nicht erfüllt sind.


Leitsterne der Psychotherapie


Da die Kernsymptome von Autismus weder psychotherapeutisch noch psychopharmakologisch behandelbar sind, kann man bei oberflächlicher Betrachtung zuerst einmal fragen, was denn Psychotherapie im Bereich Autismus überhaupt soll. Warum sollte man – so könnte etwas überspitzt eingewendet werden – etwas psychotherapieren, das man sowieso nicht ändern kann? Und tatsächlich geht es in der Psychotherapie von Erwachsenen mit ASS natürlich nicht darum, autistische Symptome zu „bessern“. Das heißt aber keineswegs, dass es keine potenziellen psychotherapeutischen Ziele gibt. Davon gibt es mehr als genug. Die hier vorgelegten Gedanken zu Zielen in der Psychotherapie können natürlich nur als Orientierung in einer Landschaft dienen, in der die Individuellen Ziele und Wege dann konkret mit dem einzelnen Patienten gefunden und gegangen werden müssen.

Wenn man zuerst einmal allgemein versucht, zentrale Ziele in der Psychotherapie von Erwachsenen mit ASS zu umreißen, an denen sich die kleineren Ziele leitsternartig orientieren, dann sind das aus unserer Sicht die Ziele des guten Lebens, der Vergrößerung der Freiheitsgrade und die Verbesserung der Verbundenheit mit anderen Menschen. Nicht als Leitstern sollten dienen: ein unauffälligeres Erscheinungsbild, eine Neurotypisierung des Lebensentwurfes oder eine „Normalisierung“ des Verhaltens. Letztere Ziele sollten ebenso wie das Ziel der „Funktionsverbesserung“ nur dann angestrebt werden, wenn sie den erstgenannten Zielen dienlich sind. Beispielsweise kann das kompensatorische Erlernen von mimischen und gestischen Ausdrücken sinnvoll sein, wenn dadurch die Möglichkeit entsteht, zwischen natürlichem und kompensierendem Verhalten je nach Anlass zu wählen, also die Freiheitsgrade zunehmen. Wenn kompensierendes Verhalten allerdings zum äußeren oder internalisierten Zwang wird, der nicht mehr unterlassen werden kann, wird es zu einer Quelle der Daueranstrengung, verstellt den Zugang zum authentischen So-Sein und schadet damit dem guten Leben. Kompensierendes Verhalten als Dauerprogramm wäre somit aus unserer Sicht in den allermeisten Fällen kein sinnvolles Ziel.


Salvatore Corbisiero
Dr. phil. Salvatore Corbisiero

Die Gestaltung einer tragfähigen therapeutischen Beziehung

In der „neurotypischen Psychotherapie“ ist es längst weitgehender Konsens, dass einer der zentralen Wirkfaktoren von Psychotherapie die therapeutische Beziehung ist. Erstaunlicher Weise scheint dies im Bereich ASS ein wenig ausgeblendet zu sein. Es macht fast den Eindruck, als sei die therapeutische Beziehung in der Therapie von Erwachsenen mit ASS „nicht so wichtig“. Hier ist eine Korrektur dieser impliziten Annahme von großer Bedeutung, weswegen der Abschnitt auch etwas ausführlicher gestaltet ist. Dieser „Neglect“ der therapeutischen Beziehung in der Behandlung von Erwachsenen mit ASS entspringt vielleicht dem Klischee, dass Autisten bindungs- und beziehungslos durch die Welt gingen und auch keine Bindungen brauchten. Das stimmt natürlich nicht. Autismus ist – das kann nicht oft genug betont werden – keine Bindungs- oder Beziehungsstörung, sondern eine Störung der sozialen Interaktion. Letzteres sieht zwar bei oberflächlicher Betrachtung wie mangelnde Bindung aus, die meisten Menschen mit ASS sind aber durchaus sehr bindungs- und beziehungsfähig[1], das äußert sich nur anders als im neurotypischen Bereich. Nach unserer Erfahrung merkt der Therapeut auch das „Einrasten“ der Vertrauensbeziehung weniger stark als bei neurotypischen Klienten, was damit zu tun hat, dass die nonverbalen Signale des Vertrauens nicht in der neurotypischen Weise geäußert werden. Viele Erwachsene mit ASS haben zwar Schwierigkeiten, gute Beziehungen zu knüpfen, nicht aber wegen mangelnder Bindungsfähigkeit, sondern vielmehr aufgrund der vielen Missverständnisse und Disharmonien mit der neurotypischen Umwelt. In der Praxis konnten wir immer wieder die Erfahrung machen, dass Erwachsene mit ASS sich nach und nach auf die therapeutische Beziehung einlassen können, Vertrauen fassen und dann auch eine Beziehungsbasis zur Verfügung haben, die das Arbeiten auch an schwierigen und kontroversen Themen sicher ermöglicht. Aus Klient*innenperspektive (in einer Psychoanalyse) wird dies sehr eindrücklich in [19] beschrieben.


Nach unserer Erfahrung haben viele Behandler das Gefühl, mit autistischen Klienten nicht in Beziehung zu kommen. Behandlungen werden deshalb – insbesondere, wenn der Autismus nicht erkannt wird – häufig abgebrochen oder gar nicht erst angenommen. Oft haben die Behandler oder Helfer das Gefühl, hier nicht helfen zu „können“. Die Erkenntnis, dass dieses „Gefühl“ eine Täuschung sein kann, die oft durch die autistisch verringerte interaktionell gezeigte Resonanz bedingt ist, muss ein Stückweit „mit dem Kopf“ eingeholt werden. Wenn der Therapeut bereit ist, sich auf das eigene Befremden, Nichtverstehen und Erstaunen („Ich verstehe, was du sagst, aber nicht, was du meinst“) einzulassen, kann er sich evtl. besser öffnen. Der Eindruck, einem autistischen Menschen wie einem Individuum aus einer fremden Kultur gegenüberzusitzen, erscheint dabei häufig als am produktivsten, da er dem Behandler ermöglicht, Vorannahmen, die er gegenüber „kulturgleichen“ Menschen hat, zunächst loszulassen und sich zu fragen: Wer ist das, der mir hier gegenübersitzt? Was bedeuten seine Aussagen, Gesten und Handlungen? Worin ähnelt er mir und worin nicht? Welche Stärken und Schwächen hat er? Worunter leidet er? Welche Dinge, die bei mir Leiden hervorrufen würden, stören ihn nicht? Was fehlt ihm im Leben? Welche Werte bedeuten ihm viel, welche wenig?


Wenn diese Ebene des wenig wertenden Fragens erreicht ist, ist der Grundstein für eine gelingende therapeutische Beziehung gelegt. Der Therapeut muss dabei lernen, seine eigene Theory-of-Mind kritisch zu hinterfragen („Ich weiß, was du denkst“), sein „Bauchgefühl“ noch kritischer als sonst zu prüfen und nicht auf seiner therapeutischen Deutungshoheit zu bestehen. Von dieser Ebene aus kann das – für den Patienten unter Umständen sehr wertvolle – Wissen des Behandlers über die Welt, über neurotypisches Sozialverhalten und über Autismus mit dem Wissen des autistischen Menschen über sich selbst und sein Sosein sowie sein ggf. großes Wissen über Autismus in einen produktiven Dialog treten.

Somit ist es im konkreten Aufbauen der therapeutischen Beziehung für den Psychotherapeuten wichtig, seine eigene Wirklichkeit, Realitätswahrnehmung und seine Bewertungsmuster zu hinterfragen und in einem ersten Schritt in die Welt des Patienten «einzutauchen». Das heißt, dass der Patient in der ersten Phase der therapeutischen Beziehung oft derjenige ist, der orientiert, erklärt und aufzeigt. Der Therapeut nimmt eine flexible therapeutische Haltung ein, welche sich – soweit möglich – nicht von bekannten Normen, kognitiven Skripten und Interpretationen leiten lässt. Einerseits ermöglicht diese therapeutische Haltung dem Psychotherapeuten, Verhalten, Denken und Fühlen des Patienten zu erkunden sowie andererseits die Wirklichkeit des Patienten mit dessen Mustern und Bewältigungsstrategien zu lesen und zu verstehen. Andererseits kann so der Patient die Nähe-Distanz-Regulation zum Therapeuten aktiv gestalten und ein Gefühl von Sicherheit aufbauen.


In einer zweiten Phase der therapeutischen Beziehung lädt der Therapeut den Patienten ein, Schritt für Schritt in die Wirklichkeit des Therapeuten einzutreten, um diese besser kennenzulernen und bisher Unverstandenes besser verstehen zu lernen. Dies greift, wenn es glückt, synergetisch mit der «Psychoedukation zur neurotypischen Welt» (s.u.) ineinander. Im besten Falle werden hierbei auch korrektive Beziehungserfahrungen möglich, mit Nachfragen statt Rechthaben, gegenseitiger Neugier statt Misstrauen und einer hoffentlich verbesserten Ambiguitätstoleranz. Menschen mit ASS können in einer gelingenden therapeutischen Beziehung auch die Erfahrung machen, dass ihr Gegenüber nicht einfach aus der Beziehung verschwindet, sondern bereit ist, all die kommunikativen Irritationen zu reflektieren und all die Missverständnisse aufzuklären, die autistisch-neurotypische Kommunikation so mit sich bringt.


Der Therapeut nimmt im Betrachten des Lebens der Klienten dann oft die Haltung des Begleiters ein und zeigt dem Patienten, wie er selbst sich verhalten, wie er fühlen, wie er interpretieren und wie er denken würde. Dies passiert mit dem Ziel, neurotypisches Erleben transparenter und verstehbarer zu machen, und dient in manchen Fällen auch als Verhaltensmodell. Nachdem der Therapeut sich eingangs der Wirklichkeit des Patienten angenähert hat, wird er nach und nach zum Vermittler zwischen der Wirklichkeit des Patienten und derjenigen des Therapeuten. Und er wird zum Übersetzer zwischen «autistischer Kommunikation» und «neurotypischer Kommunikation». So entsteht Vertrauen zwischen Therapeut und Patient, was natürlich in jeder psychotherapeutischen Behandlung als zentraler Faktor anzusehen ist. Eine stabile Beziehung kann wiederum helfen, mögliche Missverständnisse, Kränkungen und Enttäuschungen, welche in der Behandlung entstehen können, auszuhalten und zu klären.


Psychoedukation


Ein therapeutisches Ziel, das wahrscheinlich stärker im Vordergrund steht als bei anderen Krankheitsbildern, ist, dass die Klienten so viel wie möglich über Autismus lernen, um sich selbst besser verstehen zu können. Die Notwendigkeit einer guten Psychoedukation zum Thema Autismus liegt damit auf der Hand. „Mitlaufende Ziele“ sind dabei, einen guten Umgang mit autistischen Symptomen zu finden, die autistischen Eigenschaften gut in die Identität zu integrieren und die störenden Symptome, die nicht zu verändern sind, akzeptieren zu lernen. Im günstigen Fall wird die Autonomie gestärkt und realistische Erwartungen an sich selbst und die weitere Therapie entwickelt. Eine individuelle Analyse von Defiziten und Ressourcen des Patienten ist dabei unabdingbar. Dabei geht es um Fragen wie: Wie stark sind verschiedene autistische Eigenschaften ausgeprägt, z.B. Geräuschempfindlichkeit, Reizfilterschwäche, Gesichtsblindheit, Defizite im Mimiklesen, Defizite im Priorisieren, Defizite beim Multitasking, Defizite der Mentalisierung innerer Zustände der Mitmenschen (Theory-of-Mind), Probleme der Stressregulation, kommunikative Defizite? Hat der Patient Synästhesien? Hat er häufige Overloads, Meltdowns oder Shutdowns? Und: Wo liegen die Schwierigkeiten des Patienten? Wo liegen seine Stärken? Worunter leidet er? Worunter leidet sein Umfeld? Was kann er ändern, damit es ihm besser geht? Welche Ressourcen könnten hierfür brauchbar sein? An welchen Stellen empfiehlt sich eine bessere Anpassung des Patienten an die Umwelt? An welchen Stellen muss die Umwelt an den Patienten angepasst werden? – Durch eine genaue – evtl. auch in einem Diagramm festgehaltene – Aufschlüsselung dieser Punkte wird dem Patienten klarer, welche Symptome ihn evtl. von seinen Mitmenschen unterscheiden, aber auch, welche Symptome er evtl. nicht hat. Zur Orientierung können hier auch Teile aus in Buchform vorliegenden Therapiemanualen dienen, z.B. [16, 17]. Auch das Lesen von Selbsthilfebüchern [20] kann in den meisten Fällen empfohlen werden.


Nicht zu unterschätzen ist auch die Psychoedukation zum Thema „Wie funktioniert die neurotypische Welt?“, also ein Erklären neurotypischer Interaktion und Kommunikation. Diese lässt sich gut mit der oben beschriebenen zweiten Phase der Beziehungsgestaltung verbinden. Sie beinhaltet im Zentrum die Frage, was die neurotypischen Menschen eigentlich die ganze Zeit mit ihrer (aus autistischer Sicht) überbordenden, unverständlichen, redundanten und verklausulierten Kommunikation austauschen. Unter anderem geht es um die vielen Informationen, die „zwischen den Zeilen“ enthalten sind. Auch ein Thema wie „Wozu ist Small-Talk da und wie funktioniert er?“ kann durchaus einigen Raum einnehmen. Das neurotypische Phänomen »Small-Talk« ist Menschen mit ASS oft ein ganz besonderes Rätsel. Dabei ist wahrscheinlich keinem Menschen dauernd bewusst, was er eigentlich tut, wenn er Small-Talk betreibt. Insofern muss man sich für die Psychoedukation zuerst einmal selbst darüber klarwerden, weswegen man »so etwas« tut. Oft gilt es, eingangs zuzugeben, dass der von Autisten häufig vorgetragene »Vorwurf«, dass der Informationsgehalt bei Gesprächen über das Wetter oder über Urlaubsplanungen semantisch nahe Null liegt, tatsächlich zutrifft: Wir sagen im Small-Talk nicht viel mehr als unser Gegenüber sowieso schon weiß oder reden über Dinge, die ihn inhaltlich nicht interessieren. Kurz gesagt: Das Gespräch dient stärker der Beziehungspflege denn der Information. An diesem Punkt sollte entsprechend erklärt werden, dass der neurotypische Mensch immer gerne wissen will, wie gerade das soziale Klima an seinem Arbeitsplatz oder in seiner Nachbarschaft ist. Dies erfährt er (der Autist hört und staunt) durch ein Gespräch über das Wetter. Die Signale dazu – auch das muss erklärt werden – sind nonverbal und werden meistens nicht bewusst verarbeitet; sie sind sogar ziemlich schwer objektivierbar.


Nichtsdestotrotz gibt es sie: Man erfährt im Small-Talk der Kaffeepausen, ob mit den Kollegen und ihren Angehörigen alles so weit in Ordnung ist, ob sie einen noch so halbwegs leiden können, ob es Intrigen gibt oder Reibereien, was die Hierarchien so machen und ob man etwas Wichtiges verpasst hat. Dabei wird von Menschen aus dem Autismusspektrum gerne die Frage gestellt, über welche Signaltransduktionswege dies genau gehe. Sie ist – das muss man zugeben – ebenfalls schwer zu beantworten. Daraus, dass die genauen Signalübertragungswege nicht objektiviert werden können, darf aber nicht die falsche Folgerung gezogen werden, dass es diese Art der nonverbalen Kommunikation nicht gibt. Es gibt sie, und das sollten Menschen mit ASS auch dann wissen, wenn sie nur zum geringsten Teil an diesem »Spiel« teilhaben können.

Themen wie „Wie verhalten sich neurotypische Menschen in Hierarchien?“ werden oft ausführlich psychoedukativ besprochen, vor allem mit dem Fokus auf die unterschiedliche Kommunikation, die je nach hierarchischem Verhältnis zueinander zur Anwendung kommt. Auch Fragen wie „Was ist der Unterschied zwischen Freunden und Kollegen?“ „Welche Funktion hat Ironie?“ und sehr vieles mehr werden hier relevant. Dies kann in einem Erlernen und Einüben von Kompensationsstrategien münden (s.u.), dient aber vor allem einmal dazu, Wissen darüber zu erwerben, in welchen Bereichen der individuelle Patient soziale Kommunikation nicht mitbekommt, nicht versteht oder nicht den „neurotypisch erwarteten“ Ausdruck erbringen kann. Voraussetzung für diese Form der Psychoedukation ist die Fähigkeit des Therapeuten, seine eigene neurotypische Welt zumindest zum Teil zu reflektieren und ihre hochkomplexen, meist unbewussten „Spielregeln“ auch in klare, für den Patienten verständliche Worte fassen kann (vgl. dazu auch [13, 14]).


Situationsanalyse


An diesen Punkt schließt sich ein weiteres, häufig sehr wichtiges Ziel in der Psychotherapie von Erwachsenen mit ASS an: Die detaillierte Analyse von zwischenmenschlichen kommunikativen Situationen. Dies kann zuerst im Hier und Jetzt der therapeutischen Sitzung erfolgen, mit dem Herausgreifen kleiner Missverständnisse und Konflikte, die in der menschlichen Kommunikation sowieso häufig und in der autistisch-neurotypischen Kommunikation Dauerbegleiter sind. Beide Kommunikationspartner sind in der Therapie gefordert, Missverständnisse und Unklarheiten zu bemerken und so gut es geht zu verbalisieren. Dabei gilt es zu klären, dass man über Missverständnisse weder stillschweigend hinweggehen muss (was ein häufiger autistischer Kompensationsmechanismus ist), noch die Kommunikation reflexhaft – mit Lachen, kleinen Späßen oder Selbstironie – zu „reparieren“ braucht (was ein häufiges neurotypisches Verhaltensmuster ist, das Menschen mit ASS oft nicht verstehen). Viele Autisten empfinden es als sehr erleichternd, über die Irritationen der alltäglichen Kommunikation gemeinsam mit dem Therapeuten reflektieren zu dürfen und damit nach und nach die Muster zu verstehen, nach denen bei ihnen Missverständnisse zustande kommen. Beispielsweise wird die mangelnde mimische Resonanz Erwachsener mit ASS von neurotypischen „Empfängern“ oft fälschlich als Ablehnung, Überheblichkeit oder Nicht-Zustimmung interpretiert. Wenn dieses Missverständnis-Muster klarer sichtbar wird, können auch besser Maßnahmen zum Gegensteuern unternommen werden, wie beispielsweise der verstärkte Einsatz von expliziter verbaler Zustimmung.

Im Verlauf der Therapie können dann auch Alltagssituationen des Patienten, die er als unverständlich oder bedrohlich wahrnimmt, zur Situationsanalyse herangezogen werden. Hier profitiert die Therapie ggf. von einem bei Menschen mit ASS häufigen, sehr exakten, teils tonbandartigen Gedächtnis, aus dem heraus soziale Situationen oft nur wenig subjektiv verfälscht rekonstruiert und dann neu verstanden werden können [14]. Aufgrund der exakten und bewertungsarmen Situationswiedergabe, zu der viele Menschen mit ASS fähig sind, kann der Therapeut oft auch retrospektiv noch die Missverständnisse herauslesen, die eine Situation schwierig gemacht haben.


Die Gestaltung der Umwelt und die Kultivierung autistischer Bedürfnisse


In vielen Therapien geht es auch ganz praktisch um die Frage, wie die Umwelt so gestaltet werden kann, dass sie für das jeweilige Individuum zuträglich und an die persönliche Ausformung des autistischen Wahrnehmungs- und Denkprofils angepasst ist. Diese therapeutische Aufgabe sollte auch deshalb nicht unterschätzt werden, weil auch Dinge, die aus neurotypischer Sicht auf der Hand liegen, aus autistischer Sicht (aufgrund der häufigen Schwäche, Analogieschlüsse zu ziehen) oft explizit benannt werden müssen. Konkret beginnt dies oft mit der Frage, wie man einen besseren äußeren Reizschutz bewerkstelligen kann, z.B. durch besser isolierte Fenster, geeignete Hörfilter, Noice-cancelling-Kopfhörer, Sonnenbrillen oder wenig hautirritierende Kleidung. Zur Frage des Reizschutzes gehört auch die Arbeitsplatzgestaltung, z.B. mit leisem Computer, wenn möglich Einzelbüro, azyklischen Arbeitszeiten und Homeofficemöglichkeiten. Auch im privaten Umfeld ist es oft wichtig, Zeiten des Ungestört-Seins genau zu definieren und dies ggf. den Angehörigen oder Mitbewohnern klar zu kommunizieren.

Weiterhin ist es insbesondere für Patienten, die gelernt haben, sich in hohem Maße anzupassen, wichtig, Räume für autistische Bedürfnisse zu gestalten, wie z.B. die Tagesstruktur an den Stellen zu ritualisieren, wo dies mit den anderen Menschen gut vereinbar ist, oder Vorhersehbarkeiten zu schaffen, wo die reale Umwelt dies zulässt. Es kann auch darum gehen, Sonderinteressen in den Beruf einzubringen oder – so sie beruflich nicht nutzbar sind – als Selbstbelohnung einzusetzen.

Viele Menschen mit ASS haben in Kindheit und Jugend gelernt, motorische Stereotypien zu unterdrücken, um sozial nicht aufzufallen. Dann geht es in der Therapie nicht selten darum, motorische Stereotypien wieder nutzbar zu machen, zur Selbststrukturierung, zur Selbstberuhigung und zur Erhöhung der Reizschwelle. Natürlich muss gut geprüft werden, dass die motorischen Stereotypien auch „am richtigen Ort“ angewendet werden, und nicht gerade in Situationen sehr hoher sozialer Aufmerksamkeit, wie im Bewerbungsgespräch oder im Sterne-Restaurant zum Einsatz kommen.

In diesen Bereich gehört auch, dass Patienten nicht selten Hilfe bei Strukturierung, Priorisierung und Organisation des Alltags benötigen. Dies kann auch einmal Ziel in einer Therapie sein, wird aber auch häufig an Autismus-Coaches abgegeben, die näher am Alltag des Patienten arbeiten und ihn auch in seinem häuslichen Umfeld mit seinen Schwierigkeiten erleben.


Einübung neuer Denk- und Verhaltensmuster


Langfristig geht es auch oft darum, Verhaltensalternativen zu üben und dadurch, die Tendenz zur rigiden „Immer-Gleich-Beantwortung“ von Situationen aufzuweichen und damit Wahlfreiheit zu schaffen. Beispielsweise ist das Verhalten in einem Bewerbungsgespräch (mit Augenkontakt, Nicken, geeigneten Rückfragen und Vermeidung von als Grenzüberschreitung empfundenem Verhalten) zumindest teilweise kompensatorisch erlernbar, und es kann durchaus sinnvoll sein, ein solches Verhaltensrepertoire zur Verfügung zu haben. In den manualisierten Therapien finden sich viele übende Verfahren [16, 17], die mit vielen praktischen Anwendungshinweisen versehen sind und aus denen sich jede Psychotherapie auch Anregungen holen kann.


Umgang mit Stress und Overloads


Praktisch jedes Leben mit Autismus bedeutet immer wieder hochgradigen Stress. Aufgrund der Reizfilterstörungen, des "intense-world"-Erlebens und auch aufgrund dessen, dass die soziale Welt vor allem eine neurotypische Welt ist, die Erwachsenen mit ASS oft eine hohe Anpassungsleistung abfordert, gehört Stress zum autistischen Alltag und die Frage nach dem guten Umgang mit Stress zu den meisten Einzeltherapien. Oft müssen sowohl Strategien entwickelt werden, um äußere Stressoren zu reduzieren, als auch Möglichkeiten gefunden werden, mit den unumgänglichen Stressoren gut umzugehen.

Ein häufiges Stresssymptom bei Menschen mit ASS ist der sogenannte "Overload". Mit dem Begriff ist – grob umrissen – die Überlastung des sensorisch-reizverarbeitenden Systems eines Menschen gemeint, die in reizüberflutenden Extremsituationen wahrscheinlich jeden treffen kann, bei Menschen aus dem Autismusspektrum aufgrund der autistischen Reizfilterstörung aber sehr viel häufiger auftritt als bei neurotypischen Menschen. Auslösereize können sensorischer Natur sein; insbesondere ungewohnte, unerwartete und komplexe sensorische Reize können, wenn sie lang genug auf einen Menschen aus dem Autismusspektrum einwirken, einen Overload auslösen. Oft sind es auch Reize und Situationen, die Ambivalenzen beinhalten oder vom Betroffenen eine Entscheidung verlangen, die Probleme bereiten. Auch die Anforderung, dass gleichzeitig mehrere Aufgaben unterschiedlicher Art gelöst werden sollen (inkl. der dafür notwendigen Priorisierungsleistung), kann zu einem Overload führen. Meist ist weniger die Qualität als vielmehr die Quantität der Reize und die Dauer der Exposition darüber entscheidend, ob es zu einem Overload kommt. Ebenso wie die Auslösereize können die Symptome eines Overloads interindividuell sehr unterschiedlich sein. Oft fällt ein Rückzug aus der Kommunikation auf, der nicht selten bis zum Mutismus führen kann, einhergehend mit einer Einengung des Bewusstseins und der Handlungsmöglichkeiten. Häufig sind auch dissoziationsähnliche Zustände mit Derealisation und Selbstentfremdungserleben. Auf der Verhaltensebene kann es zu Rückzugsverhalten (von Ohrenzuhalten über Weglaufen bis hin zum Einnehmen der Embryonalhaltung), ungerichtet anmutenden Wutanfälle und Selbstverletzungen kommen. Während bei Kindern solche externalisierenden Verhaltensweisen häufiger sind, findet sich bei Erwachsenen eher ein stummer Rückzug mit „Weggetretensein“ und Mutismus.


In therapeutischer Hinsicht besteht das erste Ziel darin, ein Bewusstsein für solche Zustände zu schaffen. Viele Betroffene halten sie einfach für "normal" und registrieren sie praktisch nicht. Das zweite therapeutische Ziel ist die Prophylaxe von Overloads. Dabei ist oft unklar, welches die Auslösereize sind, weswegen hier oft genauer "geforscht" werden muss. Das Führen eines Eventkalenders kann dazu beitragen, die Auslösereize und -situationen besser zu definieren und zu verstehen. Der nächste Schritt besteht sinnvoller Weise oft in der probeweisen Vermeidung overload-auslösender Situationen. Hierfür ist die differentialtherapeutische Abgrenzung von phobischen Verhaltensweisen, die natürlich auch bei Menschen aus dem Autismusspektrum auftreten können, besonders wichtig: Entsteht die Spannung aus einem Gefühl von Angst heraus und entwickelt sich eine zunehmende „Angst vor der Angst“, ist die Vermeidung der Situation natürlich kontraindiziert. Baut sich die Spannung eher in der Situation aufgrund von Reizflut auf, kann die Vermeidung ähnlicher Situationen sinnvoll sein. Für die Unterscheidung ist es oft hilfreich zu klären, ob der Spannungszustand vor oder während einer Situation auftritt. Für die therapeutische Zielsetzung wichtig zu wissen ist, dass Overloads unter Expositionstherapie nicht habituieren, sondern eher eine Symptomverschlechterung zeigen.


Akzeptanz der Realität einüben, Achtsamkeit


Für viele Patienten ist es aufgrund der häufigen Stresssituationen sinnvoll, Entspannungstechniken und/oder Achtsamkeitsübungen zu erlernen, mit Hilfe derer sie in Situationen hoher Stresspegel oder drohender Overloads das Anspannungsniveau regulieren können. Dabei sollte aber im Blick behalten werden, dass aufgrund der biologisch relativ unveränderlichen Reizfilterstörungen stressregulierende Therapien nur begrenzte Wirkung haben können. Zur Anwendung von Achtsamkeitsübungen bei ASS vergleiche auch [18].

Ein häufiges „autistisches Muster“ ist es, sich mit der Realität zu „verstricken“, das heißt, auf dem Standpunkt zu beharren, dass die Realität, so wie sie ist, nicht gut ist, und so wie sie ist, nicht sein sollte. Auch hier führt der psychotherapeutische Weg oft über Achtsamkeit zu Akzeptanz. Dass hierfür oft ausgiebig (und aus neurotypischer Sicht: etwas verkopft) am Wertesystem gearbeitet werden muss, sei an dieser Stelle nur am Rande erwähnt.


Begleitung auf dem Weg zu einer ganzheitlichen Identität


Bei spät diagnostizierten Erwachsenen aus dem Autismusspektrum kommt gelegentlich ein innerer Prozess in Gang, der das Innere und auch das Äußere der betroffenen Personen gehörig auf den Kopf stellen kann. Die eigene Identität kommt auf den Prüfstand, wird verändert, das Präferenzensystem wird neu justiert und so manche Prägung wird über Bord geworfen. Der Prozess kann schwierig, langwierig und schmerzhaft sein, manchmal zu Suizidalität, zu stationären Kriseninterventionen und zu Umbrüchen in quasi allen wichtigen Lebensbereichen führen. Gleichzeitig kann er für den Betroffenen erheblich zum Finden von Identität und Lebenssinn beitragen und für denjenigen, der den Prozess begleitet, so bereichernd sein wie kaum etwas Anderes in der psychotherapeutischen Arbeit. Ausführlicheres dazu im Abschlusskapitel von [14].


Psychotherapeutische Behandlung von psychiatrischen Komorbiditäten


An psychotherapeutischen Zielen sind last but not least auch diejenigen zu nennen, die die Komorbiditäten der ASS und das Menschliche allgemein betreffen. Erwachsene mit ASS haben häufig komorbide Depressionen (s.o.), auch Persönlichkeitsakzentuierungen oder -störungen (s.u.) oder Neurosen, die wie bei neurotypischen Menschen Indikationen für Psychotherapie sein können. ASS gehen nicht zwangsläufig mit komorbiden psychiatrischen Erkrankungen einher, aber sie prädisponieren dazu, unter anderem weil das Leben mit ASS in einer neurotypischen Welt die Betroffenen vor große Herausforderungen stellt und die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass es nicht gut läuft mit dem Start ins Leben. Das reicht von Eltern, die ihr autistisches Kind nicht verstehen und es chronisch überfordern, über Fachleute, die die kindlichen Verhaltensauffälligkeiten dem „schlechten Erziehungsstil“ der Eltern schuldhaft zuschreiben bis hin zu schweren Mobbingerfahrungen in Schule und Ausbildung. All das kann zu deutlichem sekundärem Leiden führen [4, 12], das potentiell einer Psychotherapie zugänglich ist.

Die für diese komorbiden Erkrankungen leitliniengerechten Behandlungen benötigen häufig leichte Modifikationen, wenn sie bei Erwachsenen mit ASS Anwendung finden, z.B. was die Art des Fragestellens (eher geschlossen als offen), die Art der Metaphorik (eher konkret bleiben) und die Erwartung an Analogieschlüsse (nicht zu viel erwarten) angeht[2]. Die Ziele (und um die geht es hier ja) ähneln dann aber denen der Therapie mit neurotypischen Klienten. Nur so viel sei gesagt: Aus klinischer Erfahrung haben Erwachsene mit ASS schon von sehr unterschiedlichen psychotherapeutischen Methoden profitiert, die nicht voreilig auf beispielsweise ein kognitiv-verhaltenstherapeutisches Vorgehen eingeengt werden sollten. Wichtig scheint vor allem der Respekt vor der Individualität des Patienten und das Interesse an seiner Besonderheit. In [19] wird beispielsweise die klassische Psychoanalyse einer Klientin mit ASS und komorbider Bindungsproblematik plus Depression beschrieben, die als sehr hilfreich erlebt wurde.


Psychotherapeutische Behandlung von komorbiden Persönlichkeitsstörungen – ein Thema mit vielen Unklarheiten


Im Zielfindungsprozess einer Psychotherapie bei Erwachsenen mit ASS taucht aus klinischer Erfahrung häufig die Frage nach dem Vorliegen von komorbiden Persönlichkeitsstörungen (PS) auf und dann natürlich auch die Frage, ob und wie diese behandelt werden sollen. Das Zusammenspiel von ASS und PS ist bislang empirisch nicht gut erfasst und liegt nosologisch in einer Art Niemandsland. Damit ist auch nicht einfach zu beantworten, wann man eine PS psychotherapeutisch behandelt, wenn sie komorbid bei einer ASS vorliegt. Die Symptome und Konstrukte von ASS und PS sind zum Teil überlappend und werden als ASS oder als PS nur aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet. Zum Beispiel weisen ASS und schizoide Persönlichkeitsstörungen große Überlappungen auf, die genuin bei beiden „Störungen“ vorhanden sind. Voneinander abzugrenzen sind also Persönlichkeitsmerkmale, die bereits elementar zum Autismus bzw. zur Entwicklungsstörung dazugehören, von Persönlichkeitsmerkmalen, die besonders gehäuft und reaktiv auftreten, wenn eine ASS vorliegt (z.B. paranoid-querulatorische Verarbeitungsmuster, narzisstische Züge). Nur Symptome, die nicht schon primär zur ASS gehören, wären aus unserer Sicht bei Vorliegen einer ASS als Diagnosekriterien einer PS heranzuziehen. Dies ist deshalb so wichtig, weil man bei den Symptomen einer PS zumindest potenziell annimmt, dass sie einer psychotherapeutischen Bearbeitung in ihrem Kern zugänglich sind. Für einen tieferen Einstieg in diese Thematik vgl. [12].


Schlussbemerkungen


Die Ziele einer Psychotherapie bei ASS sind immer individuell zu bestimmen und können sich im Prozess der Therapie auch mehrfach ändern. Der Artikel soll zur Reflexion darüber anregen, welche der beschriebenen Ziele beim jeweiligen Patienten sinnvoll und zuträglich sein können. Abschließend fasst Tabelle 1 die psychotherapeutischen Ziele von Erwachsenen mit ASS zusammen.

Ziel

Beschreibung

(1) Psychoedukation

· Umgang mit autistischen Symptomen · Erklären neurotypischer Interaktion und Kommunikation · Analyse von zwischenmenschlich kommunikativen Situationen

(2) Umgang mit der Umwelt

· Lebensführung · Vergrößerung der Freiheitsgrade · Verbesserung der Verbundenheit mit anderen Menschen

(3) Innere oder äußere Folgen autistischer Symptome

· Umgang mit Stress und Overloads · Akzeptanz der Realität · Behandlung psychiatrischer Komorbiditäten als sekundäre Leiden · Identitätsfindung · Erhöhung der Lebensqualität

Tabelle 1: Wichtige Ziele in der Psychotherapie von Erwachsenen mit ASS



Die Autoren


PD Dr. med. Dr. phil. Andreas Riedel ist Teil eines Leitender-Arzt-Tandems an der Luzerner Psychiatrie und war langjähriger Leiter der Spezialsprechstunde für Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg. Seine aktuellste Buch-Veröffentlichung ist Autismus-Spektrum-Störungen bei Erwachsenen


Dr. med. Manuela Rost ist Oberärztin in der Fachstelle für Autismus-Spektrum-Störungen der Luzerner Psychiatrie.


Dr. phil. Salvatore Corbisiero ist Leitender Psychologe in der Fachstelle für Autismus-Spektrum-Störungen der Luzerner Psychiatrie.




Literaturverzeichnis und Literatur zum Weiterlesen


[1] Frank F, Jablotschkin M, Arthen T et al. Education and employment status of adults with autism spectrum disorders in Germany – a cross-sectional-survey. BMC Psychiatry 2018; 18:75

[2] Riedel A, Schröck C, Ebert D et al. Überdurchschnittlich ausgebildete Arbeitslose – Bildung, Beschäftigungsverhältnisse und Komorbiditäten bei Erwachsenen mit hochfunktionalem Autismus in Deutschland. Psychiatrische Praxis 2015; 43: 38-44

[3] Howlin P. Social disadvantage and exclusion: Adults with autism lag far behind in employment prospects. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 2013; 52(9): 897

[4] Hofvander B, Delorme R, Chaste P et al. Psychiatric and psychosocial problems in adults with normal-intelligence autism spectrum disorders. BMC Psychiatry 2009; 9: 35

[5] Alvares GA, Bebbington K, Cleary D et al. The misnomer of 'high functioning autism': Intelligence is an imprecise predictor of functional abilities at diagnosis. Autism 2020; 24(1): 221-232

[6] Perner J. Understanding the representational mind. Cambridge, Mass.: MIT Press; 1991

[7] Baron-Cohen S. Precursor to a theory of mind: Understanding attention in others. Oxford: Blackwell; 1991

[8] Dziobek I, Rogers K, Fleck S et al. Dissociation of cognitive and emotional empathy in adults with Asperger syndrome using the Multifaceted Empathy Test (MET). J Autism Dev Disord 2008; 38(3): 464-73

[9] Jones CRG, Simonoff E, Pickles A et al. The association between theory of mind, executive function, and the symptoms of autism spectrum disorder. Autism Res 2018 Jan 11(1): 95-109

[10] Tebartz van Elst L. Autismus und ADHS: Zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit. Stuttgart: Kohlhammer; 2016

[11] Constantino JN. The quantitative nature of autistic social impairment. Pediatric Research 2011; 69 (5;2), 55R–62R

[12] Tebartz van Elst L, Biscaldi-Schäfer M, Lahmann C, Riedel A, Zeeck A (Hrsg.). Entwicklungsstörungen - Interdisziplinäre Perspektiven aus der Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalters. Stuttgart: Kohlhammer; 2022

[13] Tebartz van Elst L (Hrsg.). Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter. 3. Aufl. Berlin: MWV; 2021

[14] Riedel A, Clausen J. PraxisWissen: Autismus-Spektrum-Störungen bei Erwachsenen. 2. Aufl. Köln: Psychiatrieverlag; 2020

[15] Beesdo-Baum K, Zaudig M, Wittchen HU (Hrsg.). Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-5® – Persönlichkeitsstörungen. Deutsche Bearbeitung des Structured Clinical Interview for DSM-5® – Personality Disorders von Michael B. First, Janet B. W. Williams, Lorna Smith Benjamin, Robert L. Spitzer. Bern: Hogefe ; 2019

[16] Ebert D et al. Asperger-Autismus und hochfunktionaler Autismus bei Erwachsenen. Das Therapiemanual der Freiburger Autismus-Studiengruppe. Göttingen: Hogrefe; 2013

[17] Dziobek I, Stoll S. Hochfunktionaler Autismus bei Erwachsenen: Ein kognitiv-verhaltenstherapeutisches Manual. Stuttgart: Kohlhammer; 2019

[18] Spek A. Achtsamkeit für Menschen mit Autismus - Ein Ratgeber für Erwachsene mit ASS und deren Betreuer. Bern: Hogrefe; 2021

[19] Saalfrank B. Ich, Birgit, Autistin und Psychotherapeutin. Ostfildern: Patmos; 2019

[20] Lipinski S. Autismus: Das Selbsthilfebuch: Das Selbsthilfebuch.BALANCE Ratgeber; 2020


[1] Natürlich können auch bei ASS zusätzliche Bindungsstörungen vorliegen, diese sind dann aber keineswegs als Symptomatik des Autismus aufzufassen. [2] Zum Weiterlesen sei auf [14, 16, 17] verwiesen.

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