Interview mit Paartherapeutin Dr. Sharon Brehm
Zu den bekanntesten Symptomen von Autismus zählen Schwierigkeiten im Bereich der zwischenmenschlichen Kommunikation. Oft wissen Betroffene dabei gar nicht, welcher Sinn hinter „Smalltalk“ steckt oder welche Vorteile es haben kann, nonverbal zu kommunizieren. Auch verbleiben sie in Beziehungen oft auf der Sachebene, ohne die emotionale Ebene zu beherrschen oder deren Sinn zu erfassen.
Zwar sind dies alles Sachverhalte, über welche in Büchern oder im Internet regelmäßig berichtet wird. Doch nur sehr wenige Quellen beschäftigen sich damit, die nötigen Kenntnisse auch AN Betroffene zu vermitteln, anstatt die Probleme bloß zu benennen.
Wir von autismusspektrum.info möchten in diesem Beitrag deshalb in die Tiefe gehen. Dazu haben wir nachgefragt bei Paartherapeutin Dr. Sharon Brehm, wie Menschen mit Autismus nonverbale Kommunikation erlernen und ihr soziales Verständnis verbessern können.
autismusspektrum.info: Hallo Sharon, vielen Dank, dass Du dir Zeit nimmst, um uns unsere Fragen zur Kommunikation zu beantworten! Wie Du weißt, haben gerade Autisten große Probleme in diesem Bereich. Bestimmt kennst du aber auch viele Nicht-Autisten aus deinem Praxisalltag, welche sich damit schwertun. Deshalb das Wichtigste zuerst: Wozu brauchen wir Menschen überhaupt diese nonverbale Ebene?
Dr. Sharon Brehm: Vielen Dank, dass ich dabei sein darf! Es ist richtig, dass wir mit Worten schon sehr viel ausdrücken können. Allerdings sind sie auch unvollständig – ein Bild sagt bekanntlich mehr als tausend Worte. Auch geben Menschen bestimmten Konzepten unterschiedliche Bedeutungen und Bewertungen. Das kann man schon an einem einfachen Wort wie „laut“ beobachten. Für manche bedeutet „laut" „anstrengend“, für andere „lebendig“. So kann es zu Missverständnissen kommen.
Manchmal fehlen uns aber auch die Worte oder Menschen belügen uns. In all diesen Fällen kann uns die nonverbale Ebene eine Hilfe sein. Außerdem gibt sie uns die Möglichkeit, anderen Menschen noch tiefer zu begegnen. Wenn unsere Worte wie ein Seil sind, das wir zu anderen herüberwerfen, so stellt die nonverbale Ebene noch ein zweites oder drittes Seil zur Verfügung. Dadurch werden unsere Beziehungen belastbarer.
autismusspektrum.info: Und was sollen das für „Seile“ sein? Meinst du damit so etwas wie zusätzliche Informationskanäle?
Dr. Sharon Brehm: Richtig! Zur nonverbalen Kommunikation zählen zum Beispiel die Stimm-Melodie, unsere Körperhaltung, Gerüche und insbesondere natürlich auch unsere Mimik.
autismusspektrum.info: Mimik ist ja so ein ganz schwieriges Feld für Autisten. Bevor wir aber dazu kommen, beschäftigt uns noch etwas anderes. Und zwar die Frage, welchen Sinn und Zweck Nicht-Autisten mit Smalltalk verfolgen. Auf viele Autisten wirkt es so, als würde auch hier ein tieferer Sinn hinter den Worten verborgen liegen. Hat das auch etwas mit nonverbaler Kommunikation zu tun?
Dr. Sharon Brehm: Eher mit der Beziehungsebene. Das heißt, dass es bei Smalltalk eigentlich gar nicht oder nur wenig um den eigentlichen Sachgehalt einer Aussage geht. Smalltalk dient uns dazu, bei noch fremden Menschen vorsichtig nach Informationen zu forschen, ob sich eine engere Beziehung überhaupt „lohnt“. Sind wir auf der gleichen Wellenlänge? Und ist gerade die richtige Situation? Mit Arbeitskollegen rede ich beispielsweise über ganz andere Dinge als mit meinen Freunden. Oft haben wir ja gar nicht die Ressourcen, alle Menschen in unserem Umfeld näher kennenzulernen. Deswegen versuchen wir über Smalltalk, sie alle ein bisschen kennenzulernen, um zu schauen, bei wem ein noch tieferes Kennenlernen überhaupt sinnvoll ist.
autismusspektrum.info: Das leuchtet ein! Aber muss denn Smalltalk immer so langweilig sein? Warum sprechen die Menschen dabei nicht über etwas Spannendes, sondern immer nur über „das Wetter“?
Dr. Sharon Brehm: Das könnte man tun. Aber dann besteht auch immer das Risiko, dass man sich nicht gut versteht und eventuell in einen Streit gerät. Politik wäre da ein Thema, bei dem das ganz schnell passieren kann. Deswegen wählt man bewusst Themen aus, die für beide Parteien gefahrloser sind, wie zum Beispiel das Wetter. Bei Freunden oder guten Bekannten besteht dieses Risiko ja kaum noch und bei denen brauchen wir dann auch keinen Smalltalk mehr.
autismusspektrum.info: Das klingt logisch! Nun waren wir vorhin aber schon kurz bei der Mimik. Wie du sicherlich weißt, tun sich Autisten gerade deshalb mit der nonverbalen Kommunikation so schwer, weil sie Mimik nur schlecht entschlüsseln können. Was können sie dennoch tun, um in diesem Bereich besser zu werden?
Dr. Sharon Brehm: Das ist die vielleicht bedeutendste Frage. Trotzdem ist es mir wichtig, dass man sich nicht dazu gezwungen fühlt, jede Person auf der Welt verstehen zu können. Vielmehr sollten wir Freude daran haben, ausgewählte Menschen nach und nach noch tiefer kennenzulernen.
Es ist dabei völlig ausreichend, erstmal mit zwei oder drei engen Freunden, dem Partner oder einem Elternteil, zu beginnen. Sonst besteht immer das Risiko, sich überfordert zu fühlen.
Wenn Menschen beispielsweise große Probleme beim Lesen oder Senden von Mimik haben, können wir uns daran erinnern, dass es ja auch noch andere Kanäle gibt, über welche wir Seile zu anderen knüpfen können. Zum Beispiel über die Stimm-Melodie oder die Stellung von Händen und Füßen. Jeder Mensch hat vielleicht einen Kanal, welcher ihm besser liegt als andere. Und mit diesem können wir üben und nach und nach den anderen entdecken.
So finden wir vielleicht heraus, dass unsere beste Freundin immer ihre Arme verschränkt, wenn sie wütend ist, oder ihre Handflächen zeigen nach oben und ihr Körper ist entspannt, wenn sie gerade die Zeit mit uns genießt. Auf diesem Weg können wir die Kommunikation über nonverbale Kanäle nach und nach üben, ohne davon überfordert zu werden.
Ganz wichtig ist auch, immer neugierig auf den anderen zu sein. Wenn jemand gar nicht weiß, was in seinem Gegenüber gerade vorgeht, können wir ihn ja fragen und seine Antworten mit unseren Eindrücken abgleichen. Mit Freunden geht das natürlich am besten, da uns diese wahrscheinlich nicht anlügen. Für alle anderen bleiben uns ja vorerst noch die Gespräche über das Wetter. :-)
autismusspektrum.info: Von Herzen vielen Dank für das Gespräch!
Dr. Sharon Brehm: Die Freude war ganz meinerseits.
Dr. Sharon Brehm ist systemische Paartherapeutin mit einer eigenen Praxis in München. Auf ihrer Internetseite lovemoves.de bietet sie außerdem Übungen und Onlinekurse an, um deine Beziehungen noch besser zu machen.
Instagram: https://www.instagram.com/dr.sharonbrehm/
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