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Leben in zwei Welten – wie sich niedrig- und hochfunktionale Autisten unterscheiden


Susanne Strasser

Manchmal habe ich das Gefühl, in zwei verschiedenen Welten zu leben. Die eine Welt, in der Autismus eine Besonderheit des Daseins ist. Fern von Behinderung, sondern lediglich missverstanden von der Umwelt. Eine Welt, in der Autisten um ihre Rechte kämpfen und jede Form des therapeutischen Eingriffs als Angriff auf ihre autistische Identität sehen. Soweit zumindest die mediale Darstellung.


Und dann die andere Welt. Ich nenne sie hier: meine tägliche Praxis. Meine Praxis besteht

aus der Arbeit mit Menschen im Autismus Spektrum und deren Angehörigen. Dabei arbeite ich einerseits im Einzelsetting wie auch in Schulen, Förderzentren, Tageseinrichtungen sowie

Wohnstätten für Menschen im Autismus Spektrum. Ich arbeite hauptsächlich mit sogenannten „Niedrigfunktionalen Autisten“. Dieser Ausdruck wird zwar oft kritisiert, soll hier aber völlig wertfrei aufzeigen, dass Autismus durchaus eine funktionseinschränkende Behinderung sein kann. Dem gegenübergestellt gibt es dann den Begriff des „Hochfunktionalen Autisten“, der zwar keine kognitive Behinderung hat, dessen autistische Symptome aber trotzdem seinen Alltag dominieren.


Die Probleme, die den Großteil meiner Arbeit darstellen, sind Verhaltensprobleme wie Schreien und Toben bis hin zum totalen Kontrollverlust sowie der Selbst- und

Fremdverletzung. Die fehlende Sprache mit alle ihren Konsequenzen nimmt einen großen

Stellenwert ein, wie auch die kognitive Behinderung vieler Menschen im Autismus Spektrum. Die häufigste Ursache für das herausfordernde Verhalten liegt dabei in der veränderten Wahrnehmung, welche m. E. zentral für die autistische Behinderung ist. So sind das intensive Ausüben von Stereotypien und Zwangshandlungen, das Einnässen/Einkoten, Angstzustände oder die Tendenz des Weglaufens omnipräsent im Umgang mit Menschen im Autismus Spektrum.

Dazu kommt die Arbeit mit Eltern und Angehörigen, die schlichtweg verzweifelt und am

Ende ihrer Kräfte sind. Sie alle haben einen langen und schweren Weg hinter und vor sich. Sie müssen Trauerarbeit leisten, weil sie sich von der Vorstellung eines erfolgreichen und

selbständigen Lebens ihrer Kinder verabschieden müssen. Zusätzlich betreuen sie ihr

geliebtes Kind 24/7 ohne Urlaub, ohne Krankenstand, oft ohne geregelten Schlaf und ohne

Unterstützung und Verständnis der Umwelt. Sie sehen jeden Tag das auffällige Verhalten ihrer Kinder und haben keine Möglichkeit, dies zu ändern. Sie lieben ihre Kinder und wollen, dass sie glücklich sind. Ein bescheidener Wunsch, der oft nicht in Erfüllung geht.


Zum Glück stehen uns großartige und gut durchdachte Therapie- und Unterstützungsangebote zur Verfügung, die man unbedingt annehmen sollte, um die Lebensqualität aller Beteiligten zu verbessern. So gibt es Therapieangebote für Menschen im Autismus Spektrum, die helfen, die autistische Wahrnehmung und die damit verbundenen Probleme zu minimieren. Dazu zähle ich z.B. alle Ansätze der sensorischen Integration. Einen besonderen Stellenwert hat für mich das sogenannte Empowerment der Eltern und aller anderen Bezugspersonen, wie auch Lehrern und sonstigen Fachkräften. Unter Empowerment verstehe ich, das Aneignen von Wissen um die Bedürfnisse, der und den

richtigen Umgang mit Autisten sowie die Möglichkeiten der Hilfestellung. Mit Ansätzen wie Teacch, Pecs oder Social Stories kann das Umfeld aktiv unterstützend tätig werden. Selbstverständlich gibt es noch weitere Ansätze, deren Aufzählung den Rahmen dieses Artikels sprengen würde. Allen Ansätzen ist gemein, Menschen im Autismus Spektrum ein möglichst qualitativ hochwertiges und unbeschwertes Leben zu ermöglichen.

Die Arbeit mit sogenannten High Functioning Autisten hat andere Schwerpunkte. Ihr

Leidensdruck entsteht häufig durch Ausgrenzungs- und Mobbingerfahrung. Ihr Wunsch nach Teilhabe am Arbeitsleben wird oft nicht erfüllt, Partnerschaften gehen aufgrund der

autistischen Problematik in die Brüche. Hier kann therapeutische Hilfe in Form von

Sozialtraining oder Psychotherapie oft zu höherer Lebensqualität verhelfen.

Beide Personengruppen (hoch- und niedrigfunktional) befinden sich im Autismus Spektrum,

leben aber ebenfalls in verschiedenen Welten. Während die einen hohen bis höchsten

Unterstützungsbedarf haben und kein selbständiges Leben führen können, stellen sich den

anderen eher soziale Probleme in den Weg.


Wenn es in den Medien um Autismus geht, kommen im Sinne der Selbstvertretung Menschen aus der Gruppe der hochfunktionalen Autisten zu Wort. Dadurch mag ein verzerrtes Bild von Autismus in der Öffentlichkeit entstehen. Der Grund ist, dass niedrigfunktionale Autisten nicht über die Fähigkeiten verfügen, sich selbst zu vertreten.

Deswegen plädiere ich dafür, sich bewusst zu machen, dass es auch eine andere Welt gibt, in

der Autismus eine schwere Behinderung darstellt. Diese Menschen dürfen nicht ungesehen

und ungehört in Wohnheimen verschwinden.


Über die Autorin: Susanne Strasser hat Psychologie und Bildungswissenschaften studiert und arbeitet als Referentin und Beraterin im Bereich der Elternbildung und der Fortbildung für Fachpersonal, als Persönlichkeits- und Selbstbestimmungstrainerin sowie in der Beratung und Therapie für Menschen im Autismus Spektrum. Sie ist Mutter von zwei Kindern, einer Tochter mit Autismus und einem neurotypischen Sohn.




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