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Autist Dario: Autistischer Perfektionismus und der Mut zur Veränderung


Melanie Matzies-Köhler
Dario (52), Autist

Heute möchte von einer aktuellen Erfahrung aus meinem Berufsleben erzählen, die mich sehr berührt hat. Sie ist es wert, mit den Lesern von autismusspektrum.info geteilt zu werden. Dazu muss ich zunächst ein wenig zu meinem beruflichen Hintergrund erzählen, der mir diese Erfahrung erst möglich gemacht hat.


Als Technischer Zeichner arbeite ich mit sogenannten CAD-Programmen (= Computer Aided Design), mit denen ich meine Zeichnungen erstelle. In unserer Firma nutzen wir diese Programme nicht in der Standardversion. Es wurden hauseigene Zusatzmodule programmiert, mit denen sich die Möglichkeiten der CAD-Programme erheblich erweitern lassen. Einziger Nachteil: Sollte mal ein Software-Update bestimmter CAD-Programme notwendig sein, kann es passieren, dass einige dieser Zusatzmodule „zerschossen“ werden oder sogar ganz verloren gehen. Sie müssen dann von den Anwendern (auch von mir) nachträglich neu installiert werden − weil Softwareanwendungen (ähnlich wie Menschen) leider nicht perfekt sind. Sie funktionieren nicht immer so glatt und reibungslos, wie man sich das wünscht.


Es muss nicht immer alles perfekt sein. Eine gewisse Imperfektion tut gut, sie ist menschlich. Wer diesen Gedanken zulassen kann, der verliert nichts, sondern gewinnt etwas dazu – auch und gerade als Autist. Dieser Gedanke trieb mir fast die Tränen in die Augen.

Für mich als Autist sind solche Situationen mit wahnsinnigem Stress verbunden. Sie reißen mich aus meiner gewohnten Arbeitsroutine und fordern mir eine Flexibilität ab, die ich nur mit viel Kraftaufwand leisten kann. In solchen Situationen ist mir wichtig, dass der alte Ist-Zustand (alle Zusatzmodule sind installiert) möglichst sofort (!) oder so zeitnah wie möglich wiederhergestellt wird. Ich schalte dann die Kolleginnen und Kollegen vom CAD-Supportteam ein (die dafür ausgebildet sind, bei CAD-Programmen zu unterstützen) und bitte inständig darum, mir nach besten Kräften zu helfen, die verlorenen gegangenen Zusatzmodule neu zu installieren − und zwar so schnell wie nur möglich!


Wege zur Stressregulierung


Das Tragische daran: Mein eigener Stress und meine extreme Gereiztheit übertragen sich in solchen Momenten schnell auf die Kollegen. Ganz besonders auf die Kollegen vom CAD-Supportteam, die mir nach besten Kräften helfen, aber nicht ausschließlich für mich da sein können. Es tut mir hinterher jedes Mal leid, wenn sich meine eigene Unruhe auf das ganze Team überträgt, denn das ist das letzte, was ich will. Leider kann ich mein Verhalten und meine Ausstrahlung in solchen (für mich) sehr stressigen Situationen nicht immer so steuern, wie ich gerne möchte.


Zum Glück wissen einige Kollegen von meinem Autismus und sehen mir das ein wenig nach. Auch mit der Vertrauensfrau der Schwerbehinderten (sie arbeitet selbst im IT-Bereich) bespreche ich solche Situationen gelegentlich im Nachgang. Dadurch belasten mich solche Vorkommnisse heute auch nicht mehr ganz so stark wie noch vor einigen Jahren.


Kürzlich stand wieder ein Software-Update bei den CAD-Programmen bevor, was mir dieses Mal vom CAD-Supportteam mit ausreichend Vorlaufzeit angekündigt wurde. Eine Vorlaufzeit, die mir tatsächlich geholfen hat, schon im Vorfeld ein wenig gegenzusteuern, damit sich bei mir keine maximale Unruhe aufbaut. Ein Kollege aus dem CAD-Supportteam sprach vorher besonders ausführlich mit mir. Seine Botschaft an mich war sinngemäß:


„Mach dir keinen unnötigen Stress, wenn nach dem Update einige Extra-Features nicht mehr da sind. Du brauchst sie nicht alle für deine tägliche Arbeit. Lass erst mal das Update durchlaufen, das ist für dich in dem Moment schon Stress genug. Du Zusatzmodule müssen nicht sofort alle wieder verfügbar sein. Du installierst sie dir dann, wenn du sie brauchst – und wir als Supportteam unterstützen dich, falls es Probleme gibt.“


Ob dieser Kollege über meinen Autismus informiert ist, weiß ich nicht, ich vermute es aber. Jedenfalls haben mich seine Ausführungen auf eine Weise berührt und erreicht, wie das selten der Fall war. Ich habe versucht, seine Aussagen „zwischen den Zeilen“ zu lesen und habe sie für mich so interpretiert:


Es ist OK, wenn auch mal nicht alles perfekt ist. Keiner macht es das zum Vorwurf, wenn auf deinem Rechner nicht alles perfekt eingerichtet ist. Den Stress machst du dir selbst, niemand sonst. Wir als Kollegen – und als Firma – erwarten von dir keine Perfektion und auch keinen perfekt eingerichteten Rechner. Nur dass du persönlich dein Bestes gibst, soweit du es kannst.


Das Erstaunliche daran: Das wurde mir nicht wörtlich so gesagt. Es ist meine eigene Interpretation, die aus mir selbst kommt. Daraus wage ich zu schließen: Vielleicht sind meine Fähigkeit zur Selbstberuhigung und Selbstregulation größer, als ich lange Zeit glaubte? Dieser Erkenntnis war zutiefst tröstlich und beruhigend, fast schon heilsam.


Nicht perfekt sein tut gut


Es war, als würde ein liebevoller „innerer Vater“ oder eine „innere Mutter“ zu mir sprechen, die mir den Druck aus der Situation nehmen will. Diese Erkenntnis, man kann auch mit Autismus wachsen und neue Erfahrungen zulassen, war so schön, dass ich sie gerne mit anderen Menschen teilen möchte. Wichtig ist natürlich immer, dass diese autistischen Wachstumsprozesse (so will ich sie nennen) von einem verständnisvollen Umfeld unterstützt und begleitet werden. Von einem Umfeld, das zu neuen Erfahrungen ermutigt, ohne Druck auszuüben oder zu viel zu erwarten.


Das Ergebnis bei mir kann sich wirklich sehen lassen. Als diese Woche das zuvor angekündigte Software-Update durchlief, waren hinterher viele der zuvor installierten Zusatzmodule weg. Ich war darauf eingestellt und konnte es aushalten, ohne dass für mich die Welt unterging. Wichtig ist jetzt nur: Ich kann meine tägliche Arbeit machen — und auf die konzentriere ich mich! Sollte ich in zwei oder drei Wochen ein bestimmtes Zusatzmodul brauchen, dann installiere ich es mir neu – vorher muss ich mir den Stress nicht antun und das erwartet keiner von mir.


Ich wünsche allen Fachkräften, ihre autistischen Klienten zu Wachstumsprozessen zu ermutigen, sie dabei umfassend zu unterstützen und zu begleiten – immer im festen Glauben daran, dass Autisten (so wie alle Menschen) sich entwickeln und wachsen können – und es im tiefsten Herzen wahrscheinlich auch wollen.

Es gibt einige kleinere Zusatzfeatures, die könnte ich mir mit wenigen Mausklicks wieder zurückholen. Dennoch verzichte ich dieses Mal ganz bewusst darauf. Weil ich sie hier und heute nicht brauche. Wenn ich sie brauche, dann stehen sie jederzeit für mich verfügbar. Bis dahin versuche ich keine Angst zu haben vor diesem „unperfekten Zustand“ mit dem „unperfektem Rechner“. Ich versuche das auszuhalten und nicht als Bedrohung zu empfinden.


Tief im Herzen ahne ich mittlerweile: Es muss nicht immer alles perfekt sein. Eine gewisse Imperfektion tut gut, sie ist menschlich. Wer diesen Gedanken zulassen kann, der verliert nichts, sondern gewinnt etwas dazu – auch und gerade als Autist. Dieser Gedanke ließ sich für mich zum ersten Mal aushalten und − mehr noch — sogar innerlich annehmen. Vor Rührung trieb es mir fast die Tränen in die Augen. Verrückt, oder? Andererseits auch unglaublich schön.


Es gelingt mir längst noch nicht immer, diese Haltung auch auf andere Lebensbereiche zu übertragen. Das wird wahrscheinlich nie vollständig und überall gelingen. Es ist dennoch ein Anfang, der Mut macht.


Mut zum Wachstum


In diesem Sinne wünsche ich alle Autisten viele solcher berührenden Erfahrungen, an denen sie innerlich wachsen können. Das muss nicht auf das Berufsleben beschränkt sein. Ich wünsche Eltern, dass sie ihren autistischen Kindern bei allen notwendigen Wachstumsprozessen liebevoll beistehen können. Ich wünsche allen Fachkräften (Lehrern, Therapeuten usw.), ihre autistischen Klienten ebenfalls zu Wachstumsprozessen zu ermutigen, sie dabei umfassend zu unterstützen und zu begleiten. Nicht unter Druck oder Zwang, sondern mit liebevoller Ermutigung – immer im festen Glauben daran, dass Autisten (so wie alle Menschen) sich entwickeln und wachsen können – und es im tiefsten Herzen wahrscheinlich auch wollen.


Zum Schluss noch etwas Persönliches. Ja, ich bin gerne Autist. Ich bin manchmal auch ein wenig stolz darauf, auch wenn ich nicht der Autistic-Pride-Bewegung angehöre. Stolz bedeutet für mich nicht, dass man aufhört zu lernen oder sich nicht mehr weiterentwickeln müsste. Stolz sein bedeutetet, eine tiefe Gewissheit zu haben über die eigene Würde als Autist und als Mensch. Das ist eine existenziell wichtige Voraussetzung, um sich auf das Leben einzulassen, auf seine vielfältigen Herausforderungen zum Wachsen und Reifen.


Was mein Berufsleben betrifft: Ich habe auch vor dem nächsten Software-Update (das definitiv kommen wird) keine Angst. Ich bin mir sicher, mittlerweile habe ich die Kraft und die Ressourcen, so etwas auszuhalten, vielleicht sogar wieder ein kleines Stück daran zu wachsen. Für Autisten ist es unglaublich schwer, solche Sichtweisen zuzulassen. Umso mehr können wir stolz auf uns sein, wenn wir es dennoch schaffen.


Dario wurde 1972 geboren und bekam seine Autismus-Diagnose im Alter von 39 Jahren. Er arbeitet als Technischer Zeichner und schreibt als Autor für verschiedene Blogs und Portale. Unter anderem schrieb er die Artikel Wenn Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen und „Schlussendlich war ich Täter und Opfer zugleich.“ für die Seite ellasblog.de. Dario ist ledig und alleinlebend.

 
 
 

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