Autismus: Mikas Mutter erkämpft menschenwürdige Lösung für ihren Sohn
- Kerstin Rauch
- 17. Mai
- 5 Min. Lesezeit

Der 14-jährige Mika ist Autist. Diese Diagnose bekam er im Alter von 2 ½ Jahren von einem SPZ in Berlin. Um Mika den Weg in ein lebenswerten Alltag zu ermöglichen, begann die Mutter damals, mit ihm nach der AuJA-Spielraum-Methodik zu üben. Hier lernte der Junge, sich zu äußern und mit anderen Menschen zu interagieren. Und das Wichtigste: Er baute eine stabile Beziehung zu seiner Mutter auf. Mikas Mutter ist heute noch dankbar dafür, diese Methode schon so früh in Mikas Leben gefunden zu haben.
Immer wieder holte sie sich Hilfe, damit ihr Sohn die Chance bekam, nach seinen Bedürfnissen betreut zu werden und zu lernen. So konnte er eine normale Schule in Sachsen besuchen, wo Mikas Familie inzwischen wohnte. Mika kam mit dem Unterrichtsstoff gut zurecht, er ist klug und sehr an Neuem interessiert, besonders im Bereich Informatik. Aber die vielen Reize, die oft ungefiltert auf ihn einprasseln, machten seine Schulbesuche zu einer täglichen Herausforderung. Er mag es nicht, berührt zu werden. Auch gegen laute Geräusche und visuelle Reize ist Mika sehr empfindlich. Veränderungen fallen autistischen Kindern viel schwerer als anderen Kindern. Doch ein Schulhelfer und Routinen wie ein fester Sitzplatz halfen Mika, sich auf den Unterricht einzulassen.
Leider gab es in der 7. Klasse große Veränderungen in Mikas Schule. Die Kinder müssen jetzt für jeden Unterrichtsblock den Raum wechseln. Was für neurotypische Kinder eine spannende neue Aufgabe ist, wurde für Mikas sensibles Nervensystem zur Überforderung. Er hatte keinen festen Sitzplatz mehr. Im Schulflur herrschte heftiges Gedränge, sodass er ständig von anderen Kindern berührt wurde. Mika bemühte sich, diesen Druck auszugleichen, indem er begann, in jedem neuen Raum seinen Schultisch intensiv zu putzen. Er fühlte sich von den vielen überfordernden Reizen der Schule im wahrsten Sinne des Wortes „beschmutzt“ und versuchte, durch ständiges Händewaschen die wachsende Anspannung abzuspülen.
Was erschwerend hinzukam, war das pubertierende Verhalten seiner Schulkameraden. Lautes Grölen, Schubsen und provozierendes Verhalten gegenüber den Lehrern - ganz normal für Jungs in diesem Alter, aber für Mika zusätzlicher Stress. Oft schaffte er keinen ganzen Schultag. Um sein erregtes Nervensystem nach der Schule zu regulieren, fand Mika einen neuen, kreativen Weg: Er badete nach der Schule ausgiebig im Pool vor dem Haus und wusch sich den Stress förmlich von der Haut. Wasser hat ihm schon immer geholfen, um zur Ruhe zu kommen. Erst nach dem Bad fühlte er sich bereit, das Haus zu betreten, wo seine Mutter und sein kleiner Bruder auf ihn warteten.
Er brauchte diese Wasserrituale immer häufiger, um seine Anstrengungen zu kompensieren. Als er im Herbst wegen der Kälte nicht mehr in den Pool gehen sollte, gelang es ihm nicht, den Schulstress abzustreifen und sein Zuhause zu betreten. Er blieb nach der Schule im Auto sitzen und hörte Musik, um sich zu beruhigen und um neue Lösungswege zu finden. Leider fiel ihm nichts anderes ein, sodass er stundenlang im Auto wartete und dann doch noch in den Pool sprang.
Nachdem er im November immer noch das Bad im Außenbereich brauchte, die Mutter füllte ihm inzwischen eine Badewanne vor dem Haus mit warmem Wasser, befreite die Hausärztin Mika erst einmal von der Schule. Durch seine veränderte Reizwahrnehmung hat er selbst kein Gefühl dafür, wann er unterkühlt ist. Dadurch sah die Ärztin seine Gesundheit gefährdet.
Trotzdem hat Mika den festen Wunsch, eine Ausbildung zu machen, er möchte nicht untätig zu Hause sitzen. Deshalb stellte seine Mutter mehrere Anträge und suchte gemeinsam mit der Schule nach Lösungen, um ihrem Sohn das Lernen unter für ihn erträglichen Bedingungen zu ermöglichen. Er war jetzt schon sieben Monate zu Hause. Schließlich fanden sie gemeinsam eine tolle Lösung: eine Web-Individualschule, durch die Mika online unterrichtet wird. Diese Art von Unterstützung ist kostenintensiver als ein normaler Schulplatz und wurde prompt vom Amt abgelehnt. Doch die Mutter holte sich Rechtsbeistand und erwirkte im Sommer 2024 durch das Verwaltungsgericht die Online-Beschulung. Außerdem bekam Mika eine tägliche 2-stündige Assistenz bewilligt.
Im Sommer konnte Mika seinen Schulalltag endlich fortsetzen. Er nahm alle Aufgaben seiner Online-Lehrer sehr ernst und lernte täglich fünf Stunden, bis alle Hausaufgaben ordentlich erledigt waren. Da die Individualschule mit Mikas Stammschule zusammenarbeitet, hätte es sogar die Möglichkeit gegeben, dass Mika seine Prüfungen dann in der Regelschule ablegt.
Leider währte dieses Alltagsglück für die Familie nur kurz, denn das zuständige Jugendamt hatte eine Gutachterin bei eine Psychiaterin beauftragt, welche die langjährige Autismus-Diagnose des Jungen nun infrage stellt. Und das, ohne mit den Lehrern oder dem Schulleiter von Mikas Stammschule gesprochen zu haben. Das neue Gutachten lässt nur zwei Möglichkeiten offen: Entweder besucht Mika wieder die Regelschule, oder er wird für eine Diagnose in eine psychiatrische Klinik eingewiesen - obwohl seine Autismus-Diagnose über Jahre hinweg von mehreren Fachstellen schriftlich bestätigt ist. Alle Bedenken, die die Mutter äußert, werden von der Psychiaterin leider ignoriert. Im Gegenteil, sie zweifelt sogar das Urteilsvermögen der Mutter im Gutachten an.
Mikas Mutter blieb nichts anderes übrig, sie legte Widerspruch gegen das Gutachten ein, da beide Alternativen menschenunwürdig sind: Ein erzwungener Klinikaufenthalt kann für autistische Kinder extrem belastend sein, Mika wäre in einer komplett neuen Umgebung ohne Bezugspersonen und die Mutter befürchtet, dass sich seine Zwänge dadurch massiv verschlimmern. Aber auch der erneute Besuch der Regelschule stellte keine gute Lösung für Mika dar, da waren sich Schulleiter, Lehrer, Schulbegleiter und Mikas Mutter einig. Sein Alltag sähe wieder so aus: Er besucht den Unterricht, bis er vom Lärm und den anderen Reizen überfordert ist und seine Mutter ihn abholen muss. Danach sitzt er stundenlang im Auto, um sich zu beruhigen. Er badet im Winter vor dem Haus, um dieses betreten zu können. Danach reicht seine Kraft lediglich dafür, noch Abendbrot mit der Familie zu essen und in sein Bett zu gehen. Das ist weit weg von Lebensqualität und auch das Lernen bleibt dabei auf der Strecke.
Mikas Mutter ließ sich nicht beirren und kämpfte weiter für eine menschenwürdige Lösung. Geholfen hat ihr letztendlich eine sehr kompetente Ärztin, die ihr das Arbeitsamt vermittelte. Aufgrund aller vorliegenden Unterlagen hat diese Ärztin Mika den Reha Status erteilt. Sie erkannte, dass eine weitere Begutachtung oder gar ein Psychiatrieaufenthalt Mika nur belasten oder sogar zurückwerfen würden. Inzwischen hat Mikas Mutter eine Online Ausbildung für ihren Sohn gefunden. Die vielen Stunden des Sorgens und Kämpfens haben sich gelohnt. Mikas Mutter möchte allen Angehörigen Mut machen, nicht aufzugeben – auch wenn der Weg für Menschen mit Autismus oft voller Hürden und Vorurteile ist. Menschen, die in Ämtern täglich über Anträge entscheiden und sich trotzdem oder gerade deswegen für das Schicksal hinter dem Antrag öffnen, sind Hoffnungsstrahlen auf diesem Weg.
Kerstin Rauch (kerstinrauch.de) ist staatlich anerkannte Heilerziehungspflegerin und arbeitet als Lektorin und Mediengestalterin in Berlin. Sie schrieb mehrere Bücher und hat sich in ihrer Arbeit auf die besonderen Bedürfnisse von neurodivergenten Frauen spezialisiert. Zuletzt unterstützte sie die autistische Mutter Svenja Liesch bei der Veröffentlichung ihrer Biographie "Alles über(s) Leben: Wie ich als Mutter aus dem Autismus Spektrum alles verlieren musste, um mit meinen Kindern neu anzufangen", erschienen 2025 im Verlag "Tredition".
Es ist beklemmend zu lesen, wie schwer es autistische Kinder auch heute noch haben, insbesondere im Schulsystem. Ich dachte, es hätte sich grundlegend etwas verändert im den letzten 45 Jahren, doch es scheint noch ein weiter Weg zu sein, bis man autistischen Menschen keine unnötigen Hürden mehr in den Weg legt.
Eine zu 100% autistengerechte Welt wird es nie geben, aber so viel krasses Unverständnis, gerade auf Seiten von Behörden, ist nicht zu verstehen.