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Autismus in der Wissenschaft – neue Perspektiven für die Forschung

Interview mit Lejla Alikadic

Lejla Alikadic
Lejla Alikadic

autismusspektrum.info: Hallo Frau Alikadic! Sie forschen zum Thema Autismus. Warum?


Lejla Alikadic: In der psychologisch-wissenschaftlichen Perspektive auf Autismus bündeln sich viele meiner Interessen und Herangehensweisen. Gleichzeitig ist jetzt die Zeit, wo auch das öffentliche Interesse am Thema Autismus groß ist und viel dazu geforscht wird. In „meinem“ Forschungsbereich sind die Ergebnisse aktueller Studien zusammengenommen allerdings uneindeutig. Es gibt also noch so vieles, was wir herausfinden und lernen können. Ich persönlich hatte dabei das Glück, auf einen Doktorvater zu treffen, welcher in seiner Arbeit nicht nur einen Schwerpunkt auf selektive Aufmerksamkeit und auditive Verarbeitung legt (auch zwei meiner Interessen), sondern mir auch die Möglichkeit gibt, das Forschungsfeld Autismus mit in den Lehrstuhl zu bringen.


autismusspektrum.info: Sie sagen, das Interesse am Thema Autismus sei aktuell groß. Auch wir bekommen das natürlich mit. Trotzdem haben wir manchmal den Eindruck, die Autismus-Forschung drehe sich irgendwie im Kreis. Noch immer wissen Forscher zum Beispiel nicht, was Autismus genau ist und welche Eigenschaften autistische Menschen im Detail auszeichnen. Was sind aus Ihrer Sicht die aktuellen Probleme in der Autismusforschung?


Lejla Alikadic: Ein „im Kreis drehen“ kann ich nicht beobachten, eher einen sich iterativ entwickelnden, also von mehrfacher Wiederholung gekennzeichneter, Prozess, welcher besonders in jüngster Zeit enorm an Fahrt aufnimmt und wozu jedes Forschungsprojekt ein weiteres Puzzleteil ergänzt. Davon versuche ich einen nur kleinen Aspekt zu beleuchten und daraus ist es schwer, final zu beurteilen, was Autismus im Großen und Ganzen genau ist. Die aktuellen Probleme in der psychologischen Autismusforschung, welche ich aus meiner Perspektive beobachten kann, sind die klassischen Probleme, die schon aus der Replikationskrise bekannt sind.

Die Replikationskrise beschreibt, dass viele psychologische Studien, wenn sie wiederholt werden, nicht zu denselben Ergebnissen führen, wie beim ersten Mal ihrer Durchführung. Was allerdings ein Anspruch guter wissenschaftlicher Praxis wäre.

Weitere autismusspezifische Probleme in der Forschung sind unausgewogene Geschlechtsverhältnisse in der Stichprobe – was aus meiner Perspektive in ganz aktuellen Studien besser wird – und eine eingeschränkte Generalisierbarkeit einzelner Studien auf das gesamte Spektrum, da dieses als sehr heterogen beschrieben wird. Außerdem empfinde ich persönlich den Zugang zu Versuchspersonen als erschwert, beziehungsweise den Zugang von Versuchspersonen in das Labor.


autismusspektrum.info: Welchen Forschungsschwerpunkt haben Sie selbst aktuell?


Lejla Alikadic: Aktuell ist mein Schwerpunkt die experimentelle behaviorale Grundlagenforschung der selektiven Informationsverarbeitung und auditive Ablenkung. Vereinfacht gesagt forsche ich darüber, wie Personen auf dem Spektrum durch akustische Reize ablenkbar sind.


autismusspektrum.info: Wenn Sie eine Vision dessen entwickeln würden, wie die Autismus-Forschung idealerweise aussehen würde, wenn sie könnte... was wäre das für eine Vision und was darf auf keinen Fall dabei fehlen?


Lejla Alikadic: Für mich wären das die folgenden fünf Punkte:


1) Eine Offene und transparente Wissenschaft nach Open-Science Standards. Dazu gehören z.B. die Präregistrierung von Studien, was verhindern kann, das Studienergebnisse im Nachhinein angepasst werden. Auch kann es sinnvoll sein, im Vorfeld einer Studie eine sog. "a priori Power Analyse" durchzuführen, durch welche im Vorhinein ermittelt werden kann, wie viele Versuchspersonen in einem Experiment benötigt werden, um einen angenommenen Effekt – so er denn existiert – sichtbar zu machen. Gerade im Bereich Autismus, wo ohnehin häufig nur wenige Versuchspersonen zur Verfügung stehen, kann dies von großem Nutzen sein.


2) Die Orientierung an Leitlinien autismusfreundlicher Forschung. Das beinhaltet zum Beispiel für Personen auf dem Spektrum wichtige Aspekte wie die Vermeidung von Small-Talk oder den Verzicht auf Witze und Ironie. Aber auch andere Aspekte wie das Beachten individueller Belastungsgrenzen und sensorischer Barrieren gehören dazu.


3) Partizipative Forschung beziehungsweise die akademische Teilhabe von Personen auf dem Spektrum. Das bedeutet vor allem: Nicht nur über Personen auf dem Spektrum zu forschen, sondern mit ihnen zu forschen.


4) Eine deutlich verbesserte Wissenschaftskommunikation. Bislang wirkt es so, als dass die Ergebnisse aktueller Forschung nur langsam ihren Weg an die Öffentlichkeit finden und auch nicht für eine breite Masse zugänglich aufbereitet werden. Für all das brauchen wir kompetente Menschen, die sich darauf spezialisiert haben, unsere komplexen Forschungsergebnisse interessant, leicht verständlich und trotzdem inhaltlich korrekt aufzubereiten und an die Öffentlichkeit zu kommunizieren.


5) Eine stärkere finanzielle Förderung. Diese käme letztlich nicht nur den Forschungsprojekten an sich zugute, sondern mittelbar auch Personen auf dem Spektrum. Unser aktuelles Forschungsprojekt wird dankenswerterweise von der Stiftung Irene*1 gefördert, davon bezahlen wir die Fahrtkosten der Versuchspersonen.


autismusspektrum.info: Autismusspektrum.info ist eine Seite für autistische Menschen, von autistischen Menschen. Was schätzen Sie persönlich an Menschen auf dem Spektrum? Gibt es da etwas Spezielles? Natürlich nur ganz generell und pauschal gesprochen.


Lejla Alikadic: Bisher habe ich alle Versuchspersonen, denen ich im Kontext der aktuellen Studie begegnet bin, als sehr zuverlässig wahrgenommen. In unserem Labor wurde bisher niemand aus unserem Team von angemeldeten Versuchspersonen „sitzen gelassen“ – wie es Forschende leider oft erleben. Außerdem waren die Versuchspersonen sehr der Wissenschaft zugeneigt, was zu inhaltlich sehr interessanten Gesprächen im Anschluss an die Experimente geführt hat. Es sind sogar Personen aus weit entfernten Ecken Deutschlands zu uns gekommen, weil ihr Interesse an Forschung so groß war.


autismusspektrum.info: Eine letzte Frage an Sie, Frau Alikadic – und vielleicht die wichtigste: Wie können wir und unsere Leser Sie bei Ihrer Forschung unterstützen? Außer pünktlich zur Untersuchung zu kommen, natürlich. ;-)


Lejla Alikadic: Aktuell freue ich mich, wenn diagnostizierte Personen auf dem Spektrum zwischen 18 und 39 Jahren*2 ins Labor an die Universität Witten/Herdecke kommen und an unserer aktuellen experimentellen Studie teilnehmen. Anmelden kann man sich per E-Mail über Autism@uni-wh.de. Unsere wissenschaftliche Hilfskraft Phio kümmert sich dann um die Terminfindung und gibt weitere Infos raus.


autismusspektrum.info: Vielen Dank für das Gespräch!


Das Interview wurde geführt von: Tom Harrendorf


Lejla Alikadic ist Psychologin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Lehrstuhl für Allgemeine Psychologie an der Universität Witten/Herdecke.


Quellen: Bennett, M. R. & Goodall, E. (2022). The Reproducibility Crisis and autism Spectrum research. In Emerald Publishing Limited eBooks (S. 177–214). https://doi.org/10.1108/978-1-80382-463-520221011

Fletcher-Watson, S., Adams, J., Brook, K., Charman, T., Crane, L., Cusack, J., Leekam, S., Milton, D., Parr, J. & Pellicano, L. (2018b). Making the Future Together: Shaping autism research through Meaningful participation. Autism, 23(4), 943–953. https://doi.org/10.1177/1362361318786721

Happé S. F. A. F. (2019). Autism : A new Introduction to Psychological theory and current debate. CiNii Books. https://ci.nii.ac.jp/ncid/BB28132665

Hobson, H. & Petty, S. (2021). Moving forwards not backwards: Heterogeneity in autism spectrum disorders. Molecular Psychiatry, 26(12), 7100–7101. https://doi.org/10.1038/s41380-021-01226-7


*1 Die Stiftung Irene setzt sich seit 1982 für Menschen im Autismus-Spektrum ein, indem sie zum Beispiel wissenschaftliche Projekte fördert, jedoch keine Einzelpersonen.

*2 Auf Grund der unterschiedlichen neurologischen Entwicklung über die Lebensspanne ist die Untersuchung aus Gründen der Vergleichbarkeit auf diese Altersgruppe beschränkt.

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